Sinn und Saldo

Weltuntergang? Nein! Aber wer rettet uns vor der Apokalypse des Hans-Werner Sinn? Die gewährten Hilfen seien verloren, der Euro sei verspielt und Deutschland gefährdet, behauptet der Wirtschaftsprofessor. „Die Target-Falle“: ein Untergangsszenario.

Der Euro als Währung ist in Gefahr, obwohl er als Zahlungsmittel in den Eurostaaten und als Währung im Handel außerhalb dieses Raums akzeptiert wird. Diese Gefahr wurde durch Ungleichgewichte innerhalb des Euroraums hervorgerufen. Es sind die bekannten Schwierigkeiten, nämlich übermäßige Staatsausgaben (Griechenland), ein enormes Wachstum des Finanzsektors (Irland, Zypern) und eine Blase in der Bauwirtschaft (Irland, Spanien).

Was immer auch die Ursache in einem dieser Länder war, letztlich wuchs die Staatsschuld. Das wäre kein großes Problem, wenn die Budgetdefizite durch Ersparnisse innerhalb des jeweiligen Landes finanziert werden könnten, wie etwa in Japan. Das ist nicht der Fall. Diese Staaten sind weniger produktiv als die anderen und daher importierten sie mehr, als sie exportierten. Die klassische Methode, dieses Problem zu lösen, nämlich abzuwerten, ist wegen des Euro nicht möglich. Da die Staaten keinen Kredit zu vertretbaren Zinssätzen erhalten, müssen sie von den anderen Eurostaaten gestützt werden. Die Alternative, nämlich ein Konkurs einiger dieser Staaten, erscheint als zu große Gefahr für die gesamte europäische Wirtschaft – wahrscheinlich zu Recht.

Die Hilfen hatten die Form von Krediten und dienten zu einem großen Teil der Rückzahlung fällig gewordener Kredite, oft in den Ländern, in denen man früher Kredite genommen hatte. Dieses Verfahren hatte den Vorteil, dass man der eigenen Bevölkerung sagen konnte, Steuergelder sind davon nicht betroffen. Diese Kredite sind sogar verzinst. Die sich an den Rettungspaketen beteiligenden Staaten können ihrerseits zu sehr niedrigen Zinssätzen Mittel auf den Kapitalmärkten aufnehmen. Diese Kalkulation mag in dem einen oder anderen Fall aufgehen, etwa bei Irland. Für Griechenland ist das ausgeschlossen. Ein hohes Wirtschaftswachstum, begleitet von Inflation, wäre notwendig, damit dieser Staat aus seinen Schulden herauswachsen kann.

Diese vielleicht politisch notwendige Verschleierung der Realität hat Schriften hervorgerufen, die vor den von diesen Hilfen ausgehenden Gefahren für die Geberländer warnen. Das Buch mit der wohl größten Resonanz in Deutschland war „Die Targetfalle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder“ von Hans-Werner Sinn. Der Autor ist Professor an der Universität München und Leiter des größten deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts. Seine These: Die bisher an Hilfen gewährten Mittel sind weitgehend verloren, aber nur der Anfang. Schlimmeres kommt auf Deutschland zu. In der Bilanz der Deutschen Bundesbank sind versteckt Forderungen an die EZB im Umfang von über 700 Milliarden Euro verborgen, zirka 20 Prozent des deutschen BIPs eines Jahres – die Targetsalden. Bei einem Untergang des Euro können diese Forderungen zum Teil, im Extremfall zur Gänze, verloren gehen. Ersparnisse und Pensionen in Deutschland sind gefährdet. Deshalb ist Deutschland gezwungen, sich bedingungslos für den Erhalt des Euro einzusetzen, samt weiteren Transfers.

Wenn der Targetsaldo wächst

Diese Targetsalden entstehen so: In einem Geschäft zwischen zwei Unternehmen in unterschiedlichen Eurostaaten fließt Geld vom Importland in das Exportland. Ein Teil dieses Geldes fließt zur jeweiligen Zentralbank. Diese bekommt derart eine Forderung gegen die EZB – den Targetsaldo. Solange die Zahlungen in ein Land des Euroraums ungefähr gleich hoch sind wie Zahlungen aus diesem Land in den Euroraum, sind die Targetsalden nicht groß. Wenn aber für einen Staat die Summe der Zahlungen aus den anderen Staaten für längere Zeit höher ist als die Zahlungen aus diesem Staat, dann wächst dieser Targetsaldo. Für Deutschland gibt Professor Sinn einen Zuwachs von einer Milliarde pro Tag für die erste Hälfte 2012 an. Deutschland bekommt also zusätzliches Geld. Fraglich ist aber, ob man in Zukunft auch etwas dafür kaufen kann.

Wie kommen aber die GIIPSZ-Staaten (Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien, Zypern) zu dem Geld, mit dem sie in den anderen Staaten einkaufen? Das ist der zweite zentrale Punkt von Hans-Werner Sinn. Da sie kaum mehr Kredit bekommen, und wenn, nur mit hohen Zinssätzen, ist die EZB eingesprungen. Die Banken dieser Staaten können zu dem niedrigen Zinssatz der EZB Geld aufnehmen und an die Unternehmen beziehungsweise an die Staaten selbst weiterreichen. Es kommt daher zu einer Aufblähung der Geldmenge, mit den entsprechenden Gefahren einer Inflation. Statt Strukturprobleme zu lösen, werden sie mithilfe der Geldpolitik verschleiert.

Diese Verhältnisse herausgearbeitet zu haben wäre ein Verdienst gewesen – wäre die Analyse nicht in einem unerträglich nationalistischen Tonfall geschrieben worden. Die Ursache für die Misere nach Professor Sinn: Während die Bürger in Deutschland fleißig arbeiten und Ersparnisse für Alter und Zukunft zurückhalten, wollen die Südländer zwar Güter aus Deutschland haben, können aber dafür nicht genug liefern. Da durch die Einführung des Euro die Zinssätze im ganzen Euroland auf das Niveau der redlichen Deutschen fielen, konnte man hurtig aus Deutschland importieren.

Ein in Deutschland lebender griechischer Sänger wird mit dem Ausspruch zitiert, dass der Grieche (!) ganz heiß auf den Euro war, weil er einmal in seinem Leben ein schönes deutsches Auto besitzen wollte. Vermeintliche Eigenschaften von Nationen werden als Ursache des Problems angeführt. Schon die Konstruktion der EZB, nämlich allen teilnehmenden Staaten das gleiche Stimmrecht zu geben, war von dem eben typisch südländischen Wunsch getragen, Güter aus Deutschland ohne entsprechende Gegenleistung zu erhalten.

Natürlich kann man nicht ewig mehr importieren als exportieren, außer man bekommt Kredit. Das kann man freilich auch umdrehen: Man kann nicht ewig mehr exportieren als importieren, außer man gibt Kredit. Der Autor betont den ersten Aspekt, in einer Sprache, die das Schuldenmachen als verwerflich denunziert. Für Deutschland hingegen wird festgehalten, dass die Zurückhaltung bei Lohnsteigerungen notwendig war, weil es andernfalls nicht konkurrenzfähig gewesen wäre. Da Deutschland fast jedes Jahr einen Überschuss gehabt hat, der zuletzt stark angewachsen ist, muss es auch Staaten mit entsprechenden Defiziten geben. Was würde Professor Sinn sagen, schriebe jemand, das Ungleichgewicht in Europa sei eine Folge deutscher Sucht, den anderen mehr verkaufen zu wollen, als man bereit ist zu kaufen? Im Übrigen, wenn Deutschland die gleichen Überschüsse mit der D-Mark gehabt hätte, es säße auf einem großen Volumen von Devisen, die von Jahr zu Jahr weniger wert würden, weil die Mark aufwerten würde.

Die im Buch wiederkehrende Behauptung von der Lust des Südens auf Waren aus Deutschland suggeriert, dass die Höhe der Targetsalden mit dem Leistungsbilanzüberschuss erklärt werden kann. Dieser Überschuss beträgt aber nicht eine Milliarde Euro am Tag, mit der dieser Saldo wächst, sondern ungefähr die Hälfte. Wären die Targetsalden nur ein Spiegel der Leistungsbilanz, müsste Österreich einen positiven Targetsaldo haben. Es hat aber ein negatives, ein höheres als Frankreich.

Der Zustrom an Geld aus dem Süden (und Irland) nach Deutschland ist nicht nur eine Folge von Ungleichgewichten in den Leistungsbilanzen, sondern auch eine Folge der Veränderungen im Kapitalverkehr. Bis 2007 war es für die GIIPSZ-Staaten möglich, Kredite aus anderen Staaten zu bekommen – zu leicht, wie man jetzt weiß. Das gilt für die Staaten selbst sowie für Banken und Unternehmen. Mit dem Beginn der Finanzkrise ist diese Möglichkeit zurückgegangen, teilweise verschwunden. Das steht auch in dem Buch: Dennoch liest man immer wieder von dem Verlangen des Südens nach deutschen Waren. Dass die Importe dieser Länder jetzt geringer werden, weil die Einkommen schrumpfen, wird nicht erwähnt.

Es können sich zwar alle Banken im Euroraum Geld zu niedrigen Zinssätzen von der EZB holen, beansprucht wird das aber vor allem von den GIIPSZ-Staaten. Diese Mittel werden zur Finanzierung des Defizits der Leistungsbilanz verwendet, zur Refinanzierung von Schulden innerhalb dieser Staaten und zum Transfer von Vermögen aus den Problemstaaten in die anderen Eurostaaten, also auch nach Deutschland. Das macht sich bei der Leichtigkeit bemerkbar, mit der Deutschland seine Staatsschuld mit niedrigen Zinssätzen langfristig finanzieren kann. Dieser Vorteil wird in dem Buch nicht angeführt. Auch Österreich profitiert davon. Ein Teil dieser aus den GIIPSZ-Staaten strömenden Mittel landet jedoch auf Targetsalden.
Der Autor verurteilt die Politik der EZB als inflationär. Stimmt: Bei den bis 2007 herrschenden Finanzstrukturen hätte eine derart große Ausweitung des Zentralbankgeldes unweigerlich zu einer rasch steigenden Inflation geführt. Seither ist es aber anders. Ein gegebenes Volumen an Geld der Zentralbank setzt ein geringeres Volumen an Krediten und damit an wirtschaftlicher Aktivität in Bewegung als bis dahin. Zum Teil deshalb, weil die Banken der anderen Staaten die ihnen zufließenden Gelder bei der EZB halten.

Bramarbasieren am Stammtisch

Selbst wenn die Gefahr der Inflation in dem Maße bestünde – was wäre die Alternative gewesen? Hätte die EZB die GIIPSZ-Staaten nicht mit Geld versorgt, würden manche bereits zahlungsunfähig geworden sein. Hans-Werner Sinn weiß das, aber es erscheint ihm als kleineres Übel. Vielleicht hat er recht. Doch das müsste er begründen. In dem Buch findet man jedoch nur banale Aussagen. Gelegentlich wird er konkreter: Nach einem Konkurs Griechenlands werden die Preise dort so stark fallen, dass die reichen Griechen ihr ins Ausland transferiertes Kapital zurückbringen werden. Italien und Spanien müssten bloß um ein bis zwei Prozentpunkte höhere Zinssätze zahlen, und alles wäre in Ordnung. Für ein Bramarbasieren am Stammtisch mag das reichen, für eine ernsthafte Diskussion über die Akzeptanz von Staatskonkursen ist es zu wenig.

Gegen Ende stellt Professor Sinn fest, dass die Beziehungen der europäischen Staaten untereinander wegen der Eurokrise sehr angespannt sind. Kurz danach steht: „Im Süden laufen die elektronischen Notenpressen heiß, man kauft sich im Norden, was einem beliebt, und die Notenbanken des Nordens saugen das Geld im Austausch gegen weitere Targetforderungen wieder auf.“ Das trägt zwar nichts zur Aufklärung über bestehende Probleme bei, wohl aber zu den Spannungen zwischen den Staaten.

Dass dieser Aspekt in der Wahrnehmung dominiert, zeigt die Ankündigung des Verlags. Dort heißt es: „Ungehemmt ziehen sie [die Staaten des Südens] mit Billigung der EZB unsere Ersparnisse aus den Kassenautomaten. Deutschland sitzt in der Falle: Alle wollen unser Geld, aber wenn wir uns dagegen wehren, werden wir überstimmt.“ Schande über den Hanser Verlag, der mit solchen Sätzen seine Bücher anpreist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2013)

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