Die Lebenslust bringt dich um

Irritierend: Dyers Roman eines Journalisten in zwei Welten. Was verbindet Venedig mit Varanasi (Benares)? Beide sind mythenbeladene Orte am Wasser, die mit V beginnen.

Was verbindet Venedig mit Varanasi (Benares)? Beide sind mythenbeladene Orte am Wasser, die mit V beginnen. Auf recht viel mehr Gemeinsamkeiten will der 1958 geborene Brite Geoff Dyer, der diesen Städten je eine Hälfte eines Romans gewidmet hat, gar nicht hinaus.

Zunächst erhält der des Schreibens überdrüssige Journalist Jeff Atman den Auftrag, nach Venedig zu reisen – dies begründet den Originaltitel „Jeff in Venice, Death in Varanasi“, ein Wortspiel, das so manchen anglosächsischen Kritiker die Augen verdrehen ließ. Der Topos Venedig dient als Code-Pool, aus dem Dyers Accessoires entnimmt, ohne dass diese eine tiefere Bedeutung erhalten.

Was jedenfalls vom alten Aschenbach zu halten ist, wird gleich anhand eines Brodsky-Zitates klargestellt: „Leider war der Film nicht besonders erwähnenswert. Und außerdem hat mir das Buch auch nie sonderlich gefallen.“ In diesem generellen Ennui gerät der Mitvierziger Jeff nun in eine Hitzewelle, ein Boutique-Hotel und die Eröffnung der Biennale von 2003. Zahllose Cameo-Auftritte bekannter Künstler führen zu Namedropping als weiteren Romanaccessoires. Die auf den Parties anwesenden Kritiker und Galeristen sind ein zynischer Haufen, vorwiegend an der Konsumation von Gratis-Bellinis interessiert.

Zum Glück trifft Jeff auf die amerikanische Galeristin Laura, mit der er lästert, säuft, kokst und endlich zu dem kommt, was das deutsche Cover in großen Lettern verspricht: Sex. Die Sprache, in der derselbe beschrieben wird, ist routiniert und mechanistisch, so dass man den Eindruck hat, zwei tüchtigen Porno-Darstellern bei der Arbeit zuzusehen. Der ostentative Hedonismus hinterlässt ein depressives Gefühl, oder, um es mit Falco zu sagen: „Die Lebenslust bringt di um.“ Und dann, gerade als man das Buch wegen seiner spätpubertären Bringt-eh-alles-nix-Attitüde entnervt von sich werfen will, beginnt der zweite Teil, und die Karten werden neu gemischt.

Von Venedig nach Varanasi

Wieder ist es ein abgehalfterter Journalist, der einen Auftrag bekommt und eine Reise antritt, diesmal in die berühmte Stadt am Ganges, auf deren Ghats die Toten verbrannt werden. Wieder wird kein touristisches Klischee ausgelassen: Die Bettler! Der Verkehr! Die Affen! Die hygienischen Zustände! Ist dieser Ich-Erzähler Jeff? Wird er Laura in Varanasi wiedertreffen? Es gehört zu den großen Finessen des Buches, dass Dyer auf das Zusammenweben der beiden Teile verzichtet. Vielmehr ist die zweite Reise gleichsam eine Spiegelung der ersten, ähnlich der einer Fassade im Wasser: Motive blitzen wieder auf, aber verschwommen, verzerrt. Die beiden Protagonisten sind wie die zahllosen Erscheinungsformen der Hindu-Götter: verschieden und doch gleich.

Anders als Jeff, der nach wenigen Tagen wieder aus Venedig abreist, bleibt der Erzähler in Varanasi hängen, ohne Ziel, ohne besonderes Glück oder Jammer – als hätte sich die Fremdheit, die aus ihm selber kommt, wie eine Fessel um ihn gestrickt. Zu fesseln vermag auch dieser Roman, der gerade in der konsequenten Verweigerung einer „Message“ unterhält, irritiert, fasziniert und berührt. ■


Geoff Dyer
Sex in Venedig, Tod in
Varanasi

Roman. Aus dem Englischen von Matthias Müller. 350S., geb., €20,60 (DuMont Literaturverlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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