„Täglich verstehe ich weniger“

Auf Literaturkritik antwortet man nicht, so ein Gesetz des Literaturbetriebs. Es sei denn: literarisch. Das tut Andrea Winkler in ihrem „Einbildungsroman“. Sprachlich präzise, musikalisch und misstrauisch sich selbst gegenüber: „König, Hofnarr und Volk“.

Ein Tisch in der Mitte, ein Sofa in der Ecke, eine Bank vorm Fenster, Stöße weißer Blätter, Schachteln mit Briefen und Tagebüchern, eini-ge aufgeschlagene Bücher: „Mein Zimmer besteht aus beinahe gar nichts.“ Andrea Winklers neues Buch, das vierte seit ihrem hochgelobten Debüt „Arme Närrchen“von 2006, beginnt mit einer Inventur. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist mit wenigen Strichen gezeichnet. Es braucht nicht viel, es ist alles da: Es ist der Lebensraum eines Menschen, der sich „vom Geist nährt“.

Die Wohnung ist ein Zimmer, das Zimmer eine Klause, karg, dämmrig und leer. Ein wenig Schmückendes gibt es darin doch: die schlechte Kopie eines Bildes, das „Die Frau am Fenster“ (1654) von Jacobus Vrel sein könnte, und „ein einziges Gedicht“, auf Ton gebrannt, das Winkler nicht zitiert, aber kenntlich macht. Es stammt von Robert Walser, trägt den Titel „Wie immer“ und ist seinerseits eine literarische Inventur: „Die Lampe ist noch da, / der Tisch ist auch noch da, / und ich bin noch im Zimmer, / und meine Sehnsucht, ah, / seufzt noch wie immer.“

In dieses romantische Anfangsbild, das dem Klischee vom armen Poeten nachgezeichnet ist, setzt Winkler ihre Hauptfigur Lina Lorbeer, die Erzählerin des Romans. Sie ist „auserwählt“, am „Institut für Gedankenkunde und Verstehen“ zu lernen, ein nachdenkender Mensch zu sein. Unter Anleitung von Professor Icks und Professor Stein sollen Lina und ihre Kollegen daran arbeiten, ihr Denken und Verstehen zu verfeinern. Die Lehre, durch die sie gehen, verspricht einerseits Exklusivität: „Sie sind hier, weil Sie etwasinteressiert, was die wenigsten Menschen interessiert. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen, Sie wollen nachdenken, womöglich über das Wesen der Worte.“

Andererseits ist der Unterricht darauf ausgerichtet, den Studenten des Instituts jede Illusion zu nehmen, ihre Berufung sei für irgendetwas gut. Da ist kein Gedanke mehr, der nicht schon gedacht worden wäre, der noch besser, schärfer, schöner gefasst werden könnte, und da ist weit und breit kein „Volk“, das einen zum König erhebt. Das Amt, dessen man im Reich der Gedankenkunde waltet, beruht auf Anmaßung und Ohnmacht. Jede Geste, jede große, laute, ausgreifende zumal, zeigt einen dort in seiner ganzen clownesken Lächerlichkeit. Das erinnert nicht zufällig an das monströs-märchenhafte Königreich Popo aus Georg Büchners „Leonce und Lena“.

Folgerichtig ist das Nahziel der Eifrigen unter den Studenten, die den Professoren die Bücher hinterhertragen, ein Büro am Institut, im Keller freilich. Und das Fernziel, in Jahrhunderten gedacht, ein Platz in der steinernen Ahnengalerie im Hof, ein Kopf neben anderen Köpfen: „Dieser Charakterkopf! Diese Locken! Dieses poetische Gesichtchen! War es nicht von jeher bestimmt, hier zu stehen und die Blätter im Hof zu betrachten?!“ Man mag in dieser bitteren wie heiteren Zukunftsvision so wie in Lina Lorbeer selbst durchaus ein Porträt der Autorin erkennen, das nach dem Bild gemalt ist, das sich die Literaturkritik nach ihren ersten drei Büchern von ihr gemacht hat.

Jedenfalls ist die „womöglich hochbegabte“ Lina Lorbeer nicht unbedingt das, was man sich unter einer gelehrigen Schülerin vorstellt. Sie ist eigensinnig, es mangelt ihr an Anpassungsbereitschaft, „ein schwieriger Mensch“. Und so sieht sie sich immer wieder mit den gut gemeinten Ermahnungen konfrontiert, die Professor Icks und Professor Stein und manche ihrer ehrgeizigen Kollegen parat haben, damit sie sich „einen Namen mache“: „Sie können so schöne Fragen stellen. Aber glauben Sie denn, mit dem Fragenstellen allein hat sich die Sache schon erledigt? Sie müssen der Wirklichkeit antworten, aber nicht so leise und zaghaft und zaudernd, wie Sie das gern tun, sondern mit fester Stimme und ohne zu zögern.“ Sie sei schweigsam, verträumt, nach innen gewandt, scheu vor den Augen der andern und empfindsam, sehr empfindsam. „Wir Dichter sind nun einmal so. Aber im wirklichen Leben sind wir, und da bläst ein anderer Wind, ein außerordentlich kalter.“

Aber es gibt nicht nur das wirkliche Leben und den Hörsaal am Institut, wo ständig vom wirklichen Leben die Rede ist. Es gibt auch noch das Zimmer mit dem Tisch in der Mitte und dem Sofa in der Ecke. Und von dort aus, von diesem Rückzugsraum mit dem kargen Inventar, dessen sie sich ständig aufs Neue versichert, erzählt Lina Lorbeer von dem, was man sie am Institut lehrt, was sie im Umgang mit ihren Kollegen und den Professoren erlebt. Sie erzählt davon im Modus reflexiver Selbstbefragung, in einer Art Selbstgespräch, um sich abzugrenzen und zu schützen gegenüber den Zudringlichkeiten und den Selbstgewissheiten der anderen. Und sie reflektiert und wiederholt, was sie davon erzählt, in Briefen an einen abwesenden Freund, auch das eine Art Selbstgespräch: „Lieber Jakob, mir dreht sich hier ständig der Kopf, täglich verstehe ich weniger.“

Nun, das ist zumindest sympathisch, weil sich Andrea Winkler in dem Selbstverständnis, das sie in „König, Hofnarr und Volk“ entwirft, am wenigsten selbst schont. Das Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten von Literatur wird bei Andrea Winkler zu Literatur, es bleibt nicht in den Kinderschuhen der Literaturbetriebssatire stecken. Freilich gibt es in diesem Buch auch ein starkes Moment der Inszenierung, das allerdings nicht auf Ironie verzichtet, ohne sich in Ironie zu flüchten, und das von einem ständigen Misstrauen begleitet ist. Gewissheiten sind hier rar und immer nur vorläufig. Andrea Winkler geht tatsächlich keiner Frage aus dem Weg, da haben die Professoren Icks und Stein nicht unrecht. „Feigheit, bist du noch da? / und Lüge, auch du? / ich hör' ein dunkles Ja: / das Unglück ist noch da, / und ich bin noch im Zimmer / wie immer.“

Wenn Lina Lorbeer außerhalb ihres Zimmers Boden unter die Füße bekommt, ist es meistens dünnes, brüchiges Eis, auf dem sie zum Teil wunderschöne Figuren zeichnet, mit einem ausgeprägten Verständnis für Harmonie und einem guten Ohr für die leisesten Töne. Im Detail, im kleinen Rahmen sozusagen, ist das alles mit großer Präzision und Musikalität gearbeitet. Aber die Poesie, die sich aus diesem starken Willen zur Schönheit ergibt, ist nicht immer ungekünstelt und frei von Pathos. Und mehr als sympathisch? Mehr als schön? Mehr als das wäre weniger, vielleicht auch weniger rund und weniger glatt. ■


Andrea Winkler liest am 25. Februar um
20 Uhr in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, aus ihrem Buch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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