Der Mann im Mond

Man kennt seinen Namen, aber kaum sein Werk. Das ist schade. Denn mit dem vor 250 Jahren geborenen Jean Paul trat ein Dichter auf die Bühne der Literatur, der wie kaum ein anderer das Leben feierte. Ein Anreiz zur Wiederentdeckung.

Oft weiß ich kaum, was ich eigentlich aus mir machen soll als Bücher.“ Leben als Literatur. Leben war Jean Paul Schreiben, und war es nicht Schreiben, so war es kein Leben. Alles verwandelte er in Literatur. Selbst seine Liebschaften instrumentalisierte er zum Material für Bücher, wie eine seiner Verehrerinnen, Charlotte von Kalb, richtig erkannte: „Wir sind ihm alle nur Ideen, und als Personen gehören wir zu den gleichgültigsten Dingen“, schrieb sie resümierend an ihre Leidensgenossin Caroline Herder. Jean Paul heiratete deshalb auch nicht eine seiner klugen, attraktiven und wohlhabenden Bewunderinnen, sondern eine Frau, die so schlicht war, wie sie hieß: Karoline Mayer. Sie war die Richtige, um den geistigen Luftschiffer Jean Paul auf der Erde zu halten. Zudem war er bei der Hochzeit schon 38 und hatte einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Werks bereits publiziert.

Den Zenit seiner Publizität hatte Jean Paul 1801 nach Erscheinen seiner Romane „Die unsichtbare Loge“ (1793), „Hesperus“ (1795), „Leben des Quintus Fixlein“ (1796), „Siebenkäs“ (1796) und der Fertigstellung des größten Teils seines Hauptwerks, „Titan“ (1800 bis 1803), bereits überschritten. Denn modern war dieser Dichter nur kurz. Um die Jahrhundertwende, knapp ein Dutzend Jahre lang, lag das – vorzüglich weibliche – lesende Publikum Deutschlands Jean Paul zu Füßen; danach ebbte die Begeisterung ab, obwohl noch so wunderbare Werke wie die „Flegeljahre“ (1805), „D. Katzenbergers Badereise“ (1809) oder „Der Komet“ (1822) folgten. Auch die Germanistik macht, mehr denn je, einen großen Bogen um ihn, gilt er ihr doch als Idylliker und Humorist. Viel pejorativer kann heute das Urteil über einen Autor, der aus dem Kanon der Literaturgeschichte nicht auszuradieren ist, kaum ausfallen.

Was macht nun den am 21. März 1763 in einer der tiefsten Provinzen des an Provinzen nicht armen Deutschland aufgewachsenen Johann Paul Friedrich Richter vom gefeierten Star am Himmel von Weimar und Jena zum literarischen Außenseiter? Erst einmal die Frage: Was kann aus dem oberfränkischen Schwarzenbach an der Saale (wo Jean Paul seine Kindheit verbrachte) schon Bedeutendes kommen? Zwar wechselte Jean Paul in seinen Sturm- und Drangjahren des Öfteren seinen Wohnort – Hof, Leipzig, Weimar, Berlin und zuletzt Bayreuth waren die Stationen –, aber über Deutschland hinausgekommen ist er nicht. Im Gegensatz zu Goethe hat er das Meer nie gesehen; ebenso wie viele Landschaften, die in seinen Büchern eine funktionale Rolle spielen. Etwa der Lago Maggiore im „Titan“: „Endlich hing die zerlegte Morgenröte als eine Fruchtschnur von Hesperidenäpfeln um die fernen Kastaniengipfel; und jetzt stiegen sie auf Isola bella aus.“ Wie anders als Goethe, dessen „Wilhelm Meister“ an diesem See endet! Landschaften sind für Jean Paul zuallererst Sprache (nicht Natur), Buchstabenmusik, „Metaphernketten und mythologische Bilderserien, höchst artifizielle Wortkaskaden“, wie Biograf Helmut Pfotenhauer treffend anmerkt. Albano, der Held des „Titan“, steht im Übrigen in bewusster Konkurrenz zu „Wilhelm Meister“.

Apropos Goethe. Unwillig blätterte im Juni 1792 einer seiner Freunde, der Akademie-Professor Karl Philipp Moritz, in dem Manuskript, das ihm ein völlig unbekannter Autor zugesandt hatte: „Die unsichtbare Loge“ heißt das Konvolut. Je länger er liest, desto stärker fängt er Feuer, um zuletzt auszurufen: „Das begreif' ich nicht, der ist noch über Göthe, das ist ganz was Neues.“ In der Tat: Wer je die Passage der „Auferstehung“ Gustavs liest, als er das erste Mal die Sonne sieht, nachdem er die ersten acht Jahre seines Lebens unter der Erde verbringen hatte müssen, und nicht davon ergriffen wird, der ist empathieunfähig. Als Moritz dann zum Anhang des Romans, dem „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“, vorstößt, bleibt ihm die Spucke weg, und er stammelt: „Der Wutz Geschichte verfasst hat, ist nicht sterblich!“

Das sah auch Schiller so, selbst wenn aus ganz anderen Gründen. Nach seiner ersten Begegnung mit Jean Paul im Juni 1796 schildert er Goethe seinen Eindruck so: „Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist, voll guten Willens und herzlich geneigt, die Dinge außer sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht.“ Für die beiden hellsten Fixsterne am damaligen Literaturhimmel war das Organ, mit dem man sieht, der Verstand. Damit konnten sie jedoch den Mann im Mond nicht erfassen. Dessen Apperzeption funktionierte anders. Für ihn war der Mond etwa kein kalter Erdtrabant, sondern ein „angebissener Mohnölkuchen“. Nachzulesen in „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“, einem der wunderbarsten Bücher Jean Pauls, in dem er die Welt aus der Sicht des Passagiers einer Montgolfière betrachtet und sich über das Treiben drunten allerlei Späße erlaubt. Solche Perspektiven waren in der Tat „ganz was Neues“.

Schon zu seiner Zeit war der Sohn eines lutheranischen Pfarrers und Lehrers und einer Tuchhändlerstochter nicht nur aus dem Mond, sondern aus der Zeit gefallen. Um die intellektuellen Moden in Weimar und Jena, den damaligen geistigen Zentren Deutschlands, scherte er sich keinen Deut. Erst recht nicht, als er der intellektuellen Elite begegnete. Das geschah, nachdem er im Juni 1796 (wie so oft zu Fuß) nach Weimar aufgebrochen war. Dort wogte gerade ein mit verbalem Florett ausgetragener Kampf um Kunstauffassungen.

Zum Glück warnt Frau von Kalb den arglosen Hinterwäldler vor den hochherrschaftlichen Herren, insbesondere vor dem „Gott am Frauenplan“. Denn das blieb Goethe für Jean Paul selbst dann, als er ihn in einem Spottgedicht zum „Chinesen in Rom“ machte: „Einen Chinesen sah ich in Rom: die gesamten Gebäude, / Alter und neuerer Zeit, schienen ihm lästig und schwer.“ Tatsächlich war Jean Paul ein Neuerer und hatte wenig Respekt vor den alten und neuen Griechen. Deren Werke kannte er allerdings besser als viele der Weimarer Geistesgrößen. Die Hellenen galten ihm als „Kindsköpfe“: für Hellenisten wie die Dioskuren Goethe und Schiller ein Affront.

Im Grunde war der ganze Mann eine einzige Schmähung all dessen, was die zwei Chefklassizisten an ästhetischen Positionen zu etablieren wünschten. „Alte Formen zum Maßstab für die Darstellung moderner Inhalte machen zu wollen bedeutet für Jean Paul Vergötzung der Form auf Kosten des Lebens“, bringt Pfotenhauer die gegensätzlichen Haltungen auf den Punkt. Formlosigkeit war folgerichtig einer der Vorwürfe, die man dem Prosadichter machte, gepaart mit Theorielosigkeit und Mangel an Ernsthaftigkeit. Letzteres bezieht sich wohl darauf, dass Jean Paul, trotz der Erfolglosigkeit seiner ersten Satirenbände, zeitlebens Satiriker blieb, der – man erinnere sich an den Luftschiffer Giannozzo – die Menschen schrumpfte (wie später Lewis Carroll in „Alice in Wonderland“) , um die Lächerlichkeit ihres Strebens nach Geld, Macht, Ruhm kenntlich zu machen. Die scheinbar so sicheren äußeren Formen bricht er mit Perspektivenwechsel auf. Das ist, notabene, das eminent Moderne an ihm. Diese literarische Flexibilität, das Anarchische in Sprache und Struktur, lässt auch keine Kunsttheorie zu. „Denken lernt man nicht an den Regeln zum Denken, sondern am Stoff zum Denken“, war sein poetologisches Credo; und das verwandelte er sofort wieder in Literatur statt in Literaturtheorie.

Im „Quintus Fixlein“ etwa erfindet er die Figur des Kunstrats Fraischdörfer. Den lässt er dann darüber philosophieren, „ob Gebäude etwas anderes als architektonische Kunstwerke wären, die mehr zum Beschauen als zum Bewohnen gehörten. Er zeigte das Lächerliche, sich in ein Kunstwerk einzuquartieren. Er wunderte sich überhaupt, wie der König Dörfer leiden könnte; und gestand frei, es mach' ihm als Artisten eben kein Mißvergnügen, wenn eine ganze Stadt in Rauch aufginge, weil er alsdann doch die Hoffnung einer neuen schönern fasse.“ Das ist seine satirische Antwort auf das lebensfeindliche klassizistische Kunstideal.

Diese Ansicht brachte Jean Paul bereits mit, als er beim Dichterfürsten in seinem Eispalast am Frauenplan vorsprechen durfte. Dabei wird der literarische Titan bald geahnt haben, dass ihm hier ein ernsthafter Olympier erwachsen war, und er bemühte sich deshalb, den Angreifer zu vereinnahmen. Doch von der Herablassung ließ sich der fränkische Sturkopf nicht beeindrucken: „Endlich tritt der Gott her, kalt, einsylbig, ohne Akzent“, notierte Jean Paul, weiterhin mit größter Hochachtung vor dem Künstler Goethe, doch menschlich einigermaßen enttäuscht. So berichtete er Charlotte von Kalb ein paar Monate danach, er habe „gegen Göthe und Schiller eben so viele Liebe als eigentliches Mitleid mit ihren eingeäscherten Herzen“. Die divergenten ästhetischen Haltungen haben also viel mit Mentalitätsunterschieden zu tun. „Denn man verlacht oft den, der aufrichtig genug ist, sein Herz auf Unkosten seines Verstandes reden zu lassen“, zitiert die Biografin Beatrix Langner aus einem Brief Jean Pauls. Daran wird deutlich, dass es bei konträren Kunstauffassungen nicht um abstrakte akademische Positionen, sondern um Lebenseinstellungen im Widerstreit geht.

Es wäre nicht Jean Paul, hätte er die
unterschiedlichen ästhetischen Positionen nicht in literarische Figuren gegossen. So entstand 1807/08 „D. Katzenbergers Badereise“. Darin sucht der namensgebende Arzt für die mehrtägige Reise ins Bad Maulbronn einen Mitfahrer, um die Kosten zu teilen. Kurz vor der Abfahrt taucht ein „fremder, feingekleideter und fein-gesitteter Herr“ von Nieß auf, eine der vielen spiegelbildlichen Gestalten im Werk Jean Pauls. Gegen Ende der Reise geht dem Doktor sein träumerischer Mitreisender, der „wie ein reitender Jäger denFlintenlauf immer gen Himmel gerichtet“ hatte, bereits gehörig auf die Nerven. Warum, charakterisiert der Erzähler so: „Vor allem Warmen überlief gewöhnlich des Doktors inneren Menschen eine Gänsehaut; kalte Stichworte hingegen rieben, wie Schnee, seine Brust und Glieder warm und rot.“

Abgesehen davon, dass Jean Paul seinem Anspruch, der Dichter mit den meisten Vergleichen zu werden, vermutlich bis dato gerecht geworden ist, ist dieser Katzenberger bereits ganz ein Mensch der Moderne: zynisch, egoistisch, positivistisch. Und damit der Gegenpol zu Jean Paul selbst, dem Lichtenberg Folgendes konzedierte: „Eine solche Verbindung von Witz, Phantasie und Empfindung möchte auch wohl ungefähr das in der Schriftsteller-Welt sein,was die große Konjunktion dort droben am Planeten-Himmel ist. Einen allmächtigern Gleichnis-Schöpfer kenne ich gar nicht.“

Wer bis hierher gelesen hat (derart spricht Jean Paul seine Leser oft und gern an, um einen seitenlangen Exkurs einzuleiten; bei klassizistischen Germanisten sehr verpönt!) und noch keine Lust verspürt hat, eines seiner Bücher aufzuschlagen, der möge es bleiben lassen. Den anderen jedoch sei als „Einstiegsdroge“ der gelungene Band von Bernhard Setzwein mit Zeichnungen von Christian Thanhäuser anempfohlen, der von „Adambis Zucker“ ein „Abecedarium“ zu Jean Paul bietet. Eine Hinführung zu seinem Werk ist zweifellos hilfreich, hat man es dabei doch keineswegs mit Straßenbahnlektüre zu tun. Man kann dazu aber auch zu Hanns-Josef Ortheils Rowohlt-Monografie von 1984 oder Rolf Vollmanns legendärem „biografischen Essay“ mit dem Titel „Das Tolle neben dem Schönen“ von 1975 greifen.

Neckender Hang des Schicksals

Zum Geburtstagsgedenken sind zudem auch zwei profunde Biografien erschienen, eine vom langjährigen Präsidenten der Jean-Paul-Gesellschaft, Helmut Pfotenhauer, und eine von der Schriftstellerin Beatrix Langner. Beide Biografien sind – trotz ihres unterschiedlichen Ansatzes – bereits etwas für Leser, die sich intensiver auf Leben und Werk Jean Pauls einlassen wollen. Dabei stößt man dann auf einen seiner typischen Sätze, der zugleich seinen Zugang zur Poesie beschreibt: „Was mich am meisten beruhigt, ist der neckende Hang, den ich öfters am Schicksale bemerkt, immer nach dem Szenenplan meiner fremden Geschichten meine eigne auszuschneiden und so, wenn andre mit der Wirklichkeit ihre Dichtkunst wässern, schöner jene mit dieser bei mir abzusüßen.“ Tja, das Leben folgt bei ihm eben der Literatur.

Entnommen ist der Satz im Übrigen seiner „Konjektural-Biografie“, einem Spätwerk, das einen guten Einblick in die Welt und das Denken des Dichters bietet. Will man sich nämlich darauf einlassen – und jeder ist zu beneiden, der das vorhat –, so nehme man sich viel Zeit und beginne keinesfalls mit den zahlreichen Aphorismen, etwa den „Bemerkungen über uns närrische Menschen“.

Als Schnupperkurs bietet sich vielmehr das von Ulrich Holbein und Ralf Simon herausgegebene Jean-Paul-Lesebuch unter dem passenden Titel „Weltall im Krähwinkel“ an. Darin bekommt man einen ersten Eindruck von der Reichhaltigkeit und Tiefe dieses Dichters. Denn alle seine Bücher sind – gerade wegen ihrer Grotesken über die Eitelkeiten der Menschen – getragen von einer tief empfundenen Liebe zur Welt und zu den Menschen. Jean Paul ist der Dichter des Lebens, der Liebe zum Leben. Und im Grunde schrieb er zeitlebens an einem einzigen Buch: dem Buch des Lebens. ■

JEAN PAUL: Die Neuerscheinungen zum 250. Geburtstag

Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biografie. Überarbeitete Neufassung. 352S., geb., €22,70 (S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main).

Beatrix Langner: Jean Paul. Meister der zweiten Welt. Eine Biografie. 608S., Ln., €28,80 (C. H. Beck Verlag, München).

Helmut Pfotenhauer: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biografie. 508S., geb., €28,70 (Hanser Verlag, München).

Bernhard Setzwein: Jean Paul von Adam bis Zucker. Ein Abecedarium. Mit Holzschnitten und Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. 256 S., geb., €19,90 (Haymon Verlag, Innsbruck).

Michael Zaremba: Jean Paul. Dichter und Philosoph. Eine Biografie. 336 S., geb., €25,60 (Böhlau Verlag, Wien).

Ulrich Holbein und Ralf Simon (Hrsg.): Weltall im Krähwinkel. Ein Jean-Paul-Lesebuch. 300S., Hlb., €22,40 (Lilienfeld Verlag, Düsseldorf).

Petra Kabus, Bernhard Echte (Hrsg.): Das Wort und die Freiheit. Jean-Paul-Bildbiografie. 420 S., Ln ., €39 (Nimbus Verlag, Wädenswil).

Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlass. Hrsg. von Thomas Wirtz. 302S., geb., € 19,60 (Die Andere Bibliothek, Berlin).

Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit.Briefe. Hrsg. von Helmut Pfotenhauer, Norbert Miller und Markus Bernauer. 784S., Ln., € 35,90 (Hanser Verlag,
München).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2013)

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