Leben, nicht fallen

Luiz Ruffato und Daniel Alarcón schreiben von Städten und Menschen in Lateinamerika: über São Paulo und Lima, über Armut, Irrsinn, Hoffnung, Resignation, Gewalt und Zärtlichkeit in den Megacitys.

Wie kann man mit literarischen Mitteln einer Großstadt beikommen? Einer, die derart vielfältig und wechselvoll geworden ist, dass sie sich durch die Schilderung eines Menschen, einerFamilie, der Mieter einer Wohnanlage, der Nachbarn eines Viertels nicht erschöpfend darstellen lässt. Der Schriftsteller Juan Villoro hat die Frage hinsichtlich seiner Geburtsstadt Mexiko und unter Verweis auf seinen Landsmann Carlos Fuentes schon vor Jahren abschlägig beantwortet. Dessen Anspruch, inseinem Debütroman „Landschaft im klaren Licht“ die Totalität der mexikanischen Hauptstadt einzufangen, wäre heute nicht mehr zu halten. Die Stadt hatte 1958, im Erscheinungsjahr des Romans, fünf Millionen Einwohner und war in ihrer Komplexität überschaubar. Jetzt hat sie mehr als 21 Millionen und ist sozial, kulturell, historisch, architektonisch zerklüftet. Viele Stadtteile bleiben denBewohnern unbekannt. Sie haben sie nie betreten, sie werden sie nie betreten, sie dürfen sie nicht betreten. Um ein gültiges, der mehrfachaufgespaltenen Realität angemessenes Gesamtbild zu erhalten, so Villoro, müsste man einen ganzen Stab von Autoren und Autorinnen beschäftigen.

Luiz Ruffato und Daniel Alarcón haben es trotzdem mit Alleinschreiben versucht, der eine über São Paulo, das so groß wie Mexiko-Stadt ist, der andere über Lima, mit 8,5 Millionen nur scheinbar überschaubarer als die brasilianische Metropole. Sympathisch sind beide Bücher – Ruffatos Stationenroman „Es waren viele Pferde“ und Alarcóns Erzählungen „Stadt der Clowns“ – schon deshalb, weil ihre Verfasser auf wirkliches Leben aus sind, auf Armut, Irrsinn, Hoffnung oder Resignation, auf Gewalt, auf Zärtlichkeit, und dabei die zwischen den Menschen errichteten Schranken missachten. Weil sie keine Genretümelei betreiben, ihre Städte nicht als Dekoration benutzen, vor der das Geschehen seinen Lauf nimmt.

Das erstaunt vor allem an Alarcón, der zwar in Lima geboren ist, aber seit seinem vierten Lebensjahr in den USA lebt und auf Englisch schreibt. Er ist Jahrgang 1977, 16 Jahre jünger als Ruffato, dessen Roman in Brasilien schon 1991 erschienen ist. Vielleicht liegt es an der Zeitdifferenz, dass Ruffatos Werk grober wirkt, gehetzter, wie eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen. Er setzt voraus, dass die fragmentierte Wirklichkeit São Paulos erst einmal ins Bewusstsein seiner brasilianischen Leser, Leserinnen dringen muss, die – wie im Fall Mexikos, Villoro zufolge – nur einen Teil der Stadt aus persönlicher Anschauung kennen.Die Gliederung in 68 knappe Abschnitte erlaubt es ihm, Schlaglichter auf die Stadt zu werfen, die noch kein Gesamtbild ergeben, die Umrisse aber erahnen lassen. Es gibt keinen allwissenden Erzähler, sondern ein Durcheinander verschiedenster Erzählformen und Gestaltungsmittel: den inneren Monolog, die direkte Rede, den Bewusstseinsstrom, die sachliche, emotionsfreie Beschreibung von Vorgängen, ein bisschen spätavangardistischen Firlefanz im Gebrauchvon Satzzeichen, Regieanweisungen, die Aufzählung und Wiedergabe von Realien (Buchtitel, Briefe, Speisekarten, Kontaktanzeigen). Das erste und kürzeste Kapitel bestimmt Ort und Zeit: „São Paulo, 9. Mai 2000. Dienstag.“ Ein x-beliebiger, in 68 Scherben zerbrochener Wochentag. Das vorherrschende Empfinden ist Angst, die Erwartung von Unheil. Die vorherrschende Form der Verständigung:Gewalt. Es ist also nicht verwunderlich, dass Österreichisches nur in Zusammenhang mit Schusswaffen zur Sprache kommt: „Glock-Pistolen aus Österreich“.

Es gibt Glanzstücke, etwa einen Monolog über den Bürgermeister, der nicht mag, „dass man ihm in die Augen schaut“, oder ein Gedicht über einen 16-Jährigen in einer Favela, der „ein viel zu großes herz“ hat, Romane von Howard Fast liest, an keinem Überfall mitmacht, aber Waffen und Munition der Jugendgang verwahrt. „wenn es nach ihm geht würden wir mit den knarren revolution machen / gut findet er nur banküberfälle und auf geldtransporter / entführung von millionären landbesetzung und hausbesetzung“. Er ist allseits beliebt, und „die mütter sagen nimm dir ein beispiel an ihm wenn er vorbeigeht“. Ruffatos Romancollage haftet an der Oberfläche. Vielleicht ist er – was man Literatur aus Lateinamerika sonst nicht nachsagen kann – zu kurz geraten. Oder mein Unbehagen rührt daher, dassder Autor die Schlaglichter auf seine Stadt nach dem Zufallsprinzip geworfen hat. Trotzdem sollte man vor einem Flug nach São Paulo zuerst danach erst dann zu einem konventionellen Reiseführer greifen.

Letzteres gilt auch für die „Stadt der Clowns“. Aber Alarcóns Erzählungen sind verhaltener, traumhafter, mit einem Hauch Surrealismus versehen, wie wenn der graue Himmel über Lima sich als Nebel auf die Stadt gesenkt und dabei Gestalten geschluckt hätte. Eine Prosa in Halbtönen, in der Gewöhnliches geheimnisvoll anmutet und Außergewöhnliches alltäglich. Wenn von Familie, von Liebe oder auch von Politik und Kampf die Rede ist, geht es um individuelles Versäumnis, Unglück, Unvermögen eigentlich, nicht um Anklage und Abrechnung. Aber der Erzähler erörtert das Unvermögen nicht, er führt nur zu ihm hin, ein paar Schritte weit. Er deutet Katastrophen an, fast verwundert über das Leid, er spricht sie nicht aus. „Krieg bei Kerzenschein“ heißt die berührendste Geschichte.

Die Bruchstücke sind wider die Chronologie gereiht: Jugend, Liebe, Vaterschaft, das politische Engagement, der bewaffnete Widerstand. Den Tod, gleich zu Beginn in einem Nebensatz versteckt, überliest man. Gegen Ende das Trachten des Getöteten, die Gefährten an die Ursachen ihrer und seiner Entscheidung zu erinnern. „Warum den Leuten die Schulbildung verwehrt blieb; warum ihre Väter Land bestellten, das ihnen nie gehören würde; warum ihre Mütter bei anderen putzten; warum ihre Onkel arbeiteten bis zur völligen Erblindung. Warum die Unterlegenen ihr Glück im Alkohol suchten; warum Wohlstand zur Verderbtheit führte. Warum die Geschichte grausam und wahnsinnig war; warum Blut vergossen werden muss.“ Aber der letzte Satz über den Toten lautet nicht: Er fiel, sondern: „Er lebte noch.“

Auch dieses Buch sollte man für eine Reise in die Tasche stecken. Man kann es allerdings auch statt einer Reise lesen. Man begegnet darin Menschen, sich selbst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2013)

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