Wir sind die Roboter

Literatur über die Sphäre leiten-der technischer Angestellter? Ernst-Wilhelm Händler ist mit dem Roman „Der Überlebende“ nah dran an einem neuralgischen Punkt unserer Zeit. Verstörend.

Unzählige Bücher schildern, wie jemand Dichter, Maler oder Komponist wird. Aber es gibt kein einziges, das beschreibt, wie aus jemandem ein Ingenieur wird.“ Das ist literaturgeschichtlich eine gewagte Ansage, aber sie stammt auch nicht von Ernst-Wilhelm Händler, sondern von dem namenlosen Ich-Erzähler seines neuen Romans. Dieser wirkt nicht immer glaubwürdig, aber er zieht in seinen Bann.

Seit Jahrzehnten arbeitet er für den (fiktiven) Weltkonzern D'Wolf und hat es in der Hierarchie weit nach oben gebracht. Am Beginn seiner Erzählung hat er gerade die Leitung eines neuen Werks in Leipzig übernommen, in dem die „Powerwolf W-8 2000“ erzeugt wird, „die eiserne Faust unter den speicherprogrammierbaren Steuerungen. Die Kapazität des Programmspeichers acht Megabyte, die Zykluszeit betrug 14.000 Anweisungen pro Millisekunde, die Anzahl der digitalen Ein- und Ausgänge 2048, wir übten das Hersagen der technischen Spezifikationen wie einen Schnellsprechvers.“

Man sieht: Der Mann kann sich für Zahlen und Technik begeistern. Mit seiner Umgebung tut er sich indes nicht so leicht. Geräuschen gegenüber ist er sehr sensibel, in Besprechungen kann er seinen Gesprächspartnern bisweilen nur schwer folgen, und „Small Talk ist für mich overload. Ich hasse die nutzlos in sich selbst vergaffte Natur der menschlichen Beziehungen.“

In gewisser Hinsicht ist der Ingenieur aber doch ein wenig Künstler. Für einen leitenden Angestellten im technischen Bereich wirkt er ungewöhnlich sensibel, und er verhält sich mitunter erratisch. Auch evolutionsgeschichtlich-philosophische Anwandlungen sind ihm nicht fremd. Nachdem er die feierliche Eröffnung des Werkes samt Reden und Small Talk hinter sich gebracht hat, verfällt er in Grübeleien über die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des Universums. Bevor jedoch Kopfschmerzen eintreten, zieht er sich lieber auf die schwer bestreitbaren Tatsachen zurück: „Ich existiere, das ist sicher, ich las es am Tag nach der Werkseinweihung in der Leipziger Volkszeitung.“ Nicht oft, aber man darf bei der Lektüre dieses Buches auch lachen.

Ernst-Wilhelm Händler (Jahrgang 1953) ist wie kaum ein anderer dafür prädestiniert, einen Roman über die Sphäre der Techniker und Ingenieure in der Wirtschaft zu schreiben. Die Schriftstellerei ist ihm Herzensangelegenheit, aber nur sein Zweitberuf. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie übernahm er die Leitung der familieneigenen Leichtmetallfirma, die ihren Sitz bei Regensburg hat.

Solcherart in der Tradition eines Hermann Broch stehend, schreibt er Romane, die sich mit unserem Wirtschaftssystem und den Auswirkungen, die dieses auf den Menschen zeitigt, auseinandersetzen. Die meisten davon sind keine leichte Kost, aber dafür hart dran an den neuralgischen Punkten unserer Zeit. Wer etwas darüber erfahren will, wie die Arbeitswelt funktioniert – bis in Details wie die verfrühte Markteinführung von Produkten hinein glaubwürdig und literarisch ansprechend beschrieben –, der kommt an diesem Roman kaum vorbei.

In gewisser Hinsicht ähnelt „Der Überlebende“ Rainald Goetz' umstrittenem Finanzweltroman „Johann Holtrop“. Lesenswert wird er vor allem dadurch, dass der Protagonist, so wie Holtrop, ein Getriebener ist, dessen Blick auf die Welt fasziniert, wenn er auch mitunter abstößt. Er stellt es zwar als Unfall dar, doch ist er bereit, über Leichen zu gehen, wenn es um seine Arbeit geht (oder darum, sein Verhältnis zu einer Kollegin zu verschleiern). Seine Frau, eine zurückgezogen lebende Künstlerin, muss sterben, weil er für sie lebenswichtige Medikamente mit anderen Mitteln vertauscht.

Seinen engsten Mitarbeiter, von dem er vage vermutet, dass dieser ihm hinterherspioniert, schickt er in den Boxring, in dem ihm ein körperlich übermächtiger Gegner einen Teil des Gedächtnisses rausprügelt. Und zu seiner Tochter, die auch im Konzern arbeitet, aber zeitweise unter psychischen Problemen leidet, dringt er nicht durch.

Immer wieder spricht der Erzähler von seiner Gefühlskälte, die man ihm doch bitte nicht übel nehmen soll. Und doch scheint tief in seinem Innersten etwas zu sein, denn der Roman richtet sich explizit an seine verstorbene Frau: „Ich manipuliere die Leute, Maren, darin bin ich gut. – Keiner kommt auf den Gedanken, niemand traut mir das zu! Ich verberge, ich verdecke, ich enthülle nur das, was ich preisgeben muss, um die Reaktion auszulösen, die ich erreichen will.“ In Passagen wie dieser lässt Händler den Erzähler vielleicht etwas zu genau erklären, warum er wie handelt. Auch fehlt es am letzten dramaturgischen Geschick.

Faszinierend ist die Lektüre allemal. An seiner Wirkungsstätte verbirgt der Ingenieur ein Geheimnis: Im Werk befindet sich neben der offiziellen Produktionsstätte noch ein geheimes Roboterlabor, das seine wahre Leidenschaft darstellt. Wenn er über seine Roboter spricht, schäumt er vor Begeisterung über: „Die S-Bots waren maßlos beweglich, extrem schnell, fabelhaft orientierungsfähig und radikal zielbewusst!“

Schöne neue Welt? Es wäre ein großer Fehler, „Der Überlebende“ als Science-Fiction oder als dystopischen Roman zu lesen. Ganz im Gegenteil erzählt Händler von Entwicklungen, die sich in unserer Gegenwart längst ankündigen: „Wir würden es fertigbringen, die Realität zu klonen, sie würde annihiliert und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden. Neben ihrer Doppelgängerin gibt es keinen Platz für sie.“ Die Pointe im Roman ist, dass sein Held gegen Ende hin seinem Doppelgänger gegenübersteht – und dieser sich als Mensch aus Fleisch und Blut entpuppt. „Chris Raubal war der gleiche Jahrgang und genauso lange bei D'Wolf wie ich. Sah er genauso aus und kleidete er sich genauso wie ich – der ganze Mann ein frivoles Zitat –, oder hatte ich mein Spiegelbild in der Liftkabine gesehen?“

Und die Moral? Die S-Bots im Labor sind bloße Maschinen, die ohne die richtigen Anweisungen hilflos herumirren. Die Roboter, das wäre eine Lesart von „Der Überlebende“, sind wir. „Gab es noch eine andere Möglichkeit außer dem Alter und dem Verfall? Existierte eine Weggabelung, an der sich der Mensch entschließen konnte, eine andere Richtung einzuschlagen?“

Händlers Roman wirft mehr Fragen auf, als er beantworten kann. Man sollte ihm das nicht als Schwäche auslegen. ■




Ernst-Wilhelm Händler
Der Überlebende

Roman. 320 S., geb., € 20,60
(S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2013)

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