Dorf, Kreuz, Strick

Josef Winkler kreist in den zwei Prosatexten „Wortschatz der Nacht“ und „Mutter und der Bleistift“ erneut um Traumata seiner Kindheit im „kreuzförmig gebauten Dorf“ – wortgewaltig und in archaischen Bildern.

Es ist wie bei Glenn Gould. Er hat in jungen Jahren die Goldberg-Variationen in höllischem Tempo eingespielt. Die Noten waren wie Zielscheiben, die es möglichstrasch zu treffen galt. Ganze 38 Jahre später hat sich der kanadische Virtuose noch einmal an Bachs Stück herangemacht. Auf der berühmten Aufnahme ist das typische Mitsummen des Pianisten zu hören. Ein Stöhnen, das den Körper des Musikers präsent macht und mit der Musik eine untrennbare Verbindung eingeht. Jetzt hat Gould für das Tempo des eigenen Atems Zeit.

Von Josef Winkler, der in seinem Werk auf der Klaviatur des Katholizismus spielt, sind nun gleich zwei Prosabücher erschienen. Zwischen ihnen liegen mehr als 30 Jahre literarischer Entwicklung, und doch bleibt es eine Geschmacksfrage, welche der beiden Arten, mit seinem Lebensthema umzugehen, man für die bessere hält. Den Text „Wortschatz der Nacht“ hat Winkler knapp nach Erscheinen seines ersten Romans in einem Raptus von wenigen Nächten mit einer mehr als 20 Kilogramm schweren Kugelkopfschreibmaschine zu Papier gebracht. Dem Verlag war die Sache damals zu heiß, zu blasphemisch und ungestüm. So erschien der Text unter dem Titel „Das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler“ in den Grazer „manuskripten“.

Der zweite jetzt erschienene Text ist eineaktuelle literarische Auseinandersetzung, initiiert vom Tod der eigenen Mutter. Auf dem Hof in Kamering war sie die lebenslang Schweigende, gegenüber der Autorität ihres Mannes ebenso wie gegenüber all der Unbill ihres Lebens. Kein Aufbegehren und kein Widerstand war nach außen hin an ihr spürbar, nur hier und da eine zärtliche Hinwendung zum Sohn, dem „Mädchenbuben“,der in der bäuerlichen Umgebung nur als verweichlicht galt.

Vom Tod eines Bruders, der an der Frontgefallen war, wurde die Mutter 1943 mit dem schlichten und brutalen Satz in Kenntnis gesetzt: „Der Adam kommt auch heim, aber anders.“ An solchen Sätzen arbeitet sich Winklers Text ab. In langen Satzgirlanden werden die sprachlichen Relikte der Vergangenheit fast wie Reliquien gefasst. Stets vermittelt der Autor den Anschein, als würde er, was er jetzt über sich und seine Herkunft sagt, wie zum ersten Mal sagen. In einestehende Wendung ist das Dorf der Kindheit eingepasst. Wenn von ihm die Rede ist, ist verlässlich vom „kreuzförmig gebauten Dorf“ die Rede.

Schon der Titel des aktuellen Textes macht klar, dass der frühe Kugelkopf als Instrument eines Schreibens, das sich wie im Falle von „Wortschatz der Nacht“ als ein pures Einhämmern auf das Papier definiert hat, ausgespielt hat. „Mutter und der Bleistift“ nennt Winkler sein neues Buch und bringt mit dem genannten Schreibgerät den neuen literarischen Impetus auf den Punkt. Schreiben, getragen vom Bleistift, ist ein langsamer organischer Fluss.

Nicht allein dadurch bringt sich Winkler bewusst in die Spur eines anderen Kärntner Autors, der in den frühen 1970er-Jahren ein exemplarisches Mutterbuch schreibt und später programmatisch zum Bleistift wechselt. In der Nachfolge Handkes geht Winkler aber noch einen Schritt weiter. In den Eingangssätzen seines Buches paraphrasiert er den Beginn von „Wunschloses Unglück“: „Unter der Rubrik ,Vermischtes‘ stand in der Kärntner ,Kleinen Zeitung‘ Folgendes: ,Achtjähriger nahm sich das Leben. Toulouse.‘“

Nicht wie Handke vom Naheliegendsten,dem Selbstmord der Mutter, geht Winkler in seinem Schreiben aus, sondern von einem entfernten Toten in Frankreich: einem Kind, das sich scheinbar ohne Grund erhängt hat. Jene Technik der Übertragung, deren bevorzugte Figur die Metapher ist (als „Metaphernhund“ hat sich Winkler einmal bezeichnet), findet sich bereits im „Wortschatz der Nacht“. Dort werden die mittlerweile recht bekannten Toten aus dem Dorf seiner Kindheit, die beiden Selbstmörder Jakob und Robert, die sich mit einem ineinander verflochtenen Kalbsstrick im Pfarrhofstadel erhängt haben, mit einem anderen Toten aus Frankreich konfrontiert.

1976 unterzeichnete der damalige französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing das Todesurteil für einen vermeintlichen Mörder namens Christian Ranucci. Winkler überblendet die Geste mit den archaischen Bildern aus seinem Dorf, wodurch der legistische Akt erst so recht in seiner Unzeitgemäßheit erscheint. Aus solchen Dehnungen erwächst Winklers Schreiben schon früh eine unmittelbar politische Dimension.

Aus dem Bauernbuben wird einer der schärfsten Kritiker des Kärntner Haiderismus. Dies zeigt sich auch in Winklers „Salzburger Rede“ gegen den obersten Bieranstecher des Landes, einen gewissen Herrn Dörfler. Auch hier bedient sich Winkler literarischer Mittel, die er sich quasi in Notwehr aus seiner Dorfumgebung heraus angezüchtet hat. Den Mächtigen werden nicht die Leviten gelesen, sondern die Toten vorgehalten.

Um Winklers Schreiben über die Jahre hinweg adäquat zu verstehen, sollte sich die Kritik beizeiten von einer Vorstellung lösen, die aus der Psychotherapie kommt. Diese Vorstellung besagt, dass man sich die eigene Lebensgeschichte mitsamt ihren Verletzungen bloß einmal genau anzuschauen und sie aufzuarbeiten habe, um dann – quasi vonihr befreit – ein etwas glücklicheres Leben zu führen. Die Literatur von Winkler beweist just das Gegenteil. Am „Wortschatz der Nacht“ wird klar, dass die sprachlichen Formen und die Energie dieses Schreibens aus dem Zentrum der Qual genommen sind. Diese Qual ist hier nicht das Thema, sondern die Voraussetzung des Schreibens.

Zu Veränderung fähig ist allein die literarische Form. Ihre Spannweite reicht vom Phantasma einer ungestümen Sexualität, diealles, worunter der Bub jemals gelitten hat, zum Objekt einer unstillbarer Begierde macht, bis hin zu den späteren, fast klassisch zu nennenden Formen. Als Leser hat man die freie Wahl, am besten aber vergleicht man. Beispielsweise jene Stelle, in der Winkler in beiden Texten von jenem Geheimnis spricht, das seine Kindheit dominiert hat: dem nackten Leichnam der Großmutter, dem er zwischen die Beine schaut. Es hat lange gebraucht, bis aus diesem ungewöhnlichen Schrecken Literatur werden konnte. Und es ist noch nicht vorbei. ■

JOSEF WINKLER: Neue Bücher

Josef Winkler: Wortschatz der Nacht.110S., geb., €15,50 (Suhrkamp Verlag, Berlin).

Josef Winkler:Mutter und der Bleistift. 90S., brosch., €15,40 (Suhrkamp Verlag, Berlin).

Josef Winkler, Gerhard Maurer: Wenn wir den Himmel sehen wollen, müssen wir donnern helfen. Saualm reflux. Die Salzburger Rede. 100S., brosch., €7,50 (Wieser Verlag, Klagenfurt).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2013)

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