Zwischen Übel und Übel

Jaruzelski stand 1989 vor der Wahl, die Widerstandsbewegung abzuwürgen oder den Ein-marsch der Sowjets zu riskieren. Er wählte die „Politik des kleineren Übels“. Das Dilemma des polnischen Generals dient Anton Pelinka als roter Faden in seiner Analyse des Machbaren in der Politik.

Anton Pelinkas Buch „Jaruzelski oder die Politik des kleineren Übels“ halte ich für einen äußerst interessanten und lehrreichen Beitrag zu einer politischen Ethik der Demokratie und einer politischen Psychologie. Pelinka geht von zwei Thesen aus: Die erste besagt, dass die real existierende westliche Demokratie – aufgrund der Bedingungen des politischen Markts – dazu führt, den Spielraum jeder politischen Führung mehr und mehr einzuengen, und zwar im Sinne einer erkennbaren, beschreibbaren und unvertauschbaren Wirkung politischen Handelns. Personen in politischen Führungspositionen werden aufgrund der Zwänge der ökonomischen und politischen Teilsysteme oft daran gehindert, dem Paradigma ihres politischen Denkens zu folgen.

Ich kenne kein Buch aus dem Bereich der Politologie, das der Politik gewaltfreien Handelns im Sinne Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings einen so zentralen Stellenwert einräumt, wie dies hier der Fall ist. Gandhi machte Geschichte – so Pelinka. Die Geschichte Indiens der 20er-, 30er- und 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, aber auch die Geschichte Nordamerikas in den 1960er-Jahren wurden von Gandhi inspiriert. Der Kampf um die Befreiung der schwarzenBevölkerung – insbesondere in den Südstaaten der USA – unter Martin Luther Kings Führung berief sich auf Gandhi. Als Lord Halifax Hitler ersuchte, ihm ein Rezept für die britische Indien-Politik angesichts der Widerstandsbewegung Gandhis zu nennen, antwortete Hitler: „Erschießen Sie doch Gandhi.“

Gandhis gewaltiger Einfluss auf Menschen gründete nicht auf Revolution, auch nicht unmittelbar auf Reform. Gandhis Wirkung war spirituell-religiöser Art. Er berief sich immer wieder auf die Bergpredigt Jesu Christi. Gandhi hatte nie ein politisches Amt inne; er musste sich keinem politischen Wettbewerb, also keinen Wahlen, stellen. An ihm paradierten keine Massen vorbei. Gandhis Waffen waren seine Botschaft und seine gewaltfreien Aktionen. Gandhis politisches Ziel galt der Befreiung Indiens. Das Joch britischer Herrschaft wollte er von ganz Indien abschütteln. Dieses Ziel verfehlte er jedoch. Gandhi war sich dessen am Ende seines Lebens auch bewusst. Sollte er deswegen seinen gewaltfreien Kampf aufgeben?

Gandhis Widerstandsbewegung erreichte die Befreiung von der britischen Herrschaft im Jahre 1947. Aber: Das Ziel seiner Wünsche konnte er nicht erreichen. Die Befreiung Indiens musste mit der Teilung Indiens erkauft werden. Ein westlicher Teil – das heutige Pakistan –, ein östlicher Teil – das heutige Bangladesch – wurden abgespalten.

An diesem Beispiel bestätigt sich die Logik des kleineren Übels. Gandhi hat sein ursprünglich angepeiltes Ziel nicht erreicht. Er musste ein Übel akzeptieren: die Teilung Indiens. Aber seine Widerstandsbewegung erzielte zumindest die Befreiung von der britischen Herrschaft. Das war zwar nicht all das, was er wollte, aber immerhin das kleinere Übel im Vergleich zu einem Übel ganz und gar – nämlich dem Weiterbestehen der britischen Herrschaft.

Die bleibende Bedeutung Gandhis sieht Pelinka in der Macht einer Widerstandsbewegung à la Gandhi und à la Martin Luther King. Die Macht der zivilgesellschaftlichen Bewegung Gandhis und Luther Kings entwickelte sich zu einer wirksamen gesellschaftlichen Kraft. Gandhi wie auch Martin Luther King schufen Bewusstsein! Ihre gewaltfreien Widerstandsbewegungen hatten eine Verweigerungsstrategie zur Folge, deren positive Impulse zu bedeutenden Teilzielen führten. Gandhi erreichte die Befreiung Indiens von der britischen Herrschaft, Martin Luther King setzte eine grundlegende Änderung wesentlicher Gesetze durch, Gesetze, die den Afroamerikanern die Staatsbürgerrechte sicherten.

Gandhis Charisma wirkte insbesondere auf breite Schichten Großbritanniens. Das Charisma Martin Luther Kings – ihm wurde 1958 der Friedensnobelpreis zugesprochen –erreichte politisch wirksame Schichten gerade auch inmitten der weißen Bevölkerung der USA – darunter viele beliebte Schauspielerinnen und Schauspieler. So bestätigt sowohl die Widerstandsbewegung Gandhis als auch jene von Martin Luther King die These von der Politik des kleineren Übels.

Eine Linie, die im vorliegenden Buch ins Auge sticht, ist der breite Raum, den Pelinka den Affekt- und Triebstrukturen von uns Menschen – insbesondere auch der Macht des Bösen – einräumt. Von den Politikern wird Moral gefordert, und zwar nicht nur die allgemein akzeptierte Alltagsmoral, sondern eine darüber signifikant hinausgehende Moral: Der Führer raucht nicht, der Papst heiratet nicht, ein Präsident lügt nicht.

Die politischen Eliten finden sich unter diesen Bedingungen ebenfalls den Zwängen der Logik des kleineren Übels ausgesetzt. Eine signifikant höhere Moral vermögen sie nicht zu realisieren; ohne jede Moral würden sie ihres Amtes verlustig gehen. Was bleibt, ist eine Politik des „muddling through“ – also eines „Sich-hindurch-Wurstelns“: Sie versuchen zu tun, was ihnen im Rahmen dieser Zwänge zu tun möglich ist.

Josef Stalin steht für Pelinka für die Inkarnation des Bösen in der Politik schlechthin – wie Hitler. Stalin hat sich der Logik des kleineren Übels gar nicht gestellt, sondern seine Politik der Macht des Bösen unterworfen. Ebendiese brachte weithin alles Gute zum Erlöschen. Anders die Rolle, die Wojciech Jaruzelski 1989 in Polen spielte. Sie dient Pelinka gewissermaßen als roter Faden, um seine These zu verdeutlichen. Jaruzelskitraf eine Wahl zwischen Übel und Übel: entweder den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Polen zu riskieren oder die auf Reformenabzielende Widerstandsbewegung abzuwürgen. Jaruzelski entschied sich – in seinen Augen – für das kleinere Übel. Er rief das Kriegsrecht aus.

Zusammenfassend ist zu fragen: Ist jedes politische Handeln politischer Eliten unausweichlich der Logik des kleineren Übels ausgeliefert? Nein, Pelinka kennt eine Logik des „Relativ-Besseren“. Diese Logik findet ihre Wurzeln allein in der Zivilgesellschaft eines Landes. Eine Politik des „Relativ-Besseren“ ist der Macht zivilgesellschaftlicher Bewegungen geschuldet. Den politischen Eliten, die in einer Demokratie der Logik der Stimmenmaximierung unterliegen, bleibt – bei Strafe des Machtverlusts – nichts anderes übrig, als formierte sozial-ethische Interessen und Wertvorstellungen der zivilgesellschaftlichen Bewegungen zu übernehmen, und/oder die zivilgesellschaftlichen Bewegungen in ihren Interessen und Wertvorstellungen zu fördern.

Alles in allem zerstört die vorliegende Studie Pelinkas so manche Veränderungs- und Machbarkeitsillusionen – nicht nur die Illusionen von vielen Bürgern in einem Land, sondern auch die vieler Politiker. Dieses Buch ist sowohl den politischen Eliten als auch den Menschen unseres Landes als Lektüre sehr zu empfehlen. ■


Anton Pelinka
Jaruzelski oder die Politik des kleineren Übels

236S., brosch., €21,90 (Innsbruck University Press, Innsbruck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2013)

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