Ein Schiff namens Struma

Eine Armenierin als Großmutter? Für Türken eine Schande. Aber Maya erfährt noch mehr über ihre persönliche und die türki- sche Vergangenheit. „Serenade für Nadja“, Zülfü Livanelis Roman wider die Geschichtsvergessenheit seines Landes.

Es gibt kaum einen anderen Künstler in der Türkei, der seine Vielfachbegabung als Sänger, Komponist, Filmregisseur, Drehbuchschreiber und Romancier so erfolgreich auslebt wie Zülfü Livaneli. Geboren 1946 in Konya-Ilgin, flüchtete er nach dem Militärputsch von 1971 nach Schweden und verbrachte fünf Jahre im Exil, in Stockholm, Paris und Athen. Nach der Rückkehr engagierte er sich für die kurdische Sache und für die türkisch-griechische Aussöhnung. 1996 wurde er zum Unesco-Botschafter ernannt und von 2002 bis 2007 saß er als Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP) im türkischen Parlament.

Livaneli gehört zu jenen türkischen Künstlern, die sich mit der tiefen Gespaltenheit ihres Landes auseinandersetzen und nicht davor zurückschrecken, die Kalotte des Verschweigens zu lüpfen. So auch im Roman „Serenade für Nadja“, in dem gleich drei dieser blinden Flecken ausgeleuchtet werden.

Dass ihre Großmutter väterlicherseits Armenierin war, weiß Maya, eine 36-jährige Frau, die im Rektorat der Istanbul-Universität arbeitet, schon länger. Sie hat es von ihr auf dem Totenbett erfahren. Als sie ihren älteren Bruder, einen Berufsoffizier, kurz vor dessen Ernennung zum General damit konfrontiert, fühlt der sich, als überzeugter Nationalist, mit „schmutzigem Blut“ kontaminiert und klärt seine Schwester seinerseits darüber auf, dass ihre Großmutter mütterlicherseits Krimtatarin, das heißt ethnische Türkin, war und zum Tross derer gehört hat, die aufseiten der Deutschen gekämpft haben und nach Kriegsende von den Engländern an Russland ausgeliefert worden sind. Diese Krimtataren hatten ihre Angehörigen, um sie russischen Repressalien zu entziehen, bei sich, auch als sie nach Osttirol getrieben wurden, wo man sie in streng bewachte Züge Richtung Osten verfrachtet hat.

Viele entzogen sich dieser Rückstellung durch Selbstmord. Makabererweise wurden diese Rücktransporte – versiegelt – über die Türkei geführt. Einigen Männern gelang es kurz vor der Grenze zur Sowjetunion, die Türen aufzubrechen und sich in einen See zu stürzen. Auch Mayas damals 18-jährige Großmutter ging ins Wasser, wurde aber von einem türkischen Wachesoldaten gerettet, der sie später heiratete. Weder die armenische noch die krimtatarische Großmutter hat über ihre Herkunft gesprochen.

Die Geschichte der beiden Großmütter dient somit als erstes Indiz für die unaufgearbeitete türkische Vergangenheit. Wie andere Türken auch, die nichts verdrängen wollen, ist Livaneli davon überzeugt, dass all diese über Generationen hin ignorierten Beschädigungen des nationalen Selbstbewusstseins irgendwann zu eitern beginnen.

Das Hauptthema des Romans, die Verfolgung von Minderheiten, ist aber mit dem Schicksal der Struma, eines maroden Frachters mit 768 jüdischen Flüchtlingen an Bord, verbunden, die zur Jahreswende 1941/42 von Rumänien nach Palästina aufgebrochen sind und von denen nur vier überlebt haben. Die Engländer wollten sie nicht einreisen, die Türken nicht aussteigen lassen. Das Schiff war nicht mehr manövrierfähig, lag lange im Bosporus und wurde schließlich ins Schwarze Meer abgeschleppt, wo es von einem russischen Kanonenboot versenkt wurde. Die Zustände auf dem Schiff müssen katastrophal gewesen sein.

Seit 1933 hat die Türkei 190 deutsch-jüdischen Professoren und Wissenschaftlern die Möglichkeit geboten, an den Universitäten von Istanbul und Ankara zu lehren und zu überleben. Professor Maximilian Wagner, Jurist und kein Jude, kommt erst 1941 an die Istanbul-Universität, nachdem seine jüdische Frau, kurz vor der Ausreise nach Paris verhaftet und mit einer vatikanischen Taufurkunde versehen, nach Rumänien ausreisen durfte. Er möchte mit ihr in Istanbul leben und weiß, dass seine Frau auf der Struma ist. Er wird sogar Augenzeuge von deren Untergang. Da er schwört, dieses Unrecht auf der ganzen Welt publik zu machen, wird er ausgewiesen und landet an der amerikanischen Harvard-Universität. 59Jahre später wird er von der Universität, an der er einst unterrichtet hat, zu einem Vortrag eingeladen. Er ist 87 und soll von der bereits erwähnten Maya während seines Aufenthalts in Istanbul betreut werden.

Nach Ende des offiziellen Programms möchte Maximilian Wagner an das Schwarze Meer gefahren werden. Es ist der Jahrestag des Untergangs der Struma. Bei Eiseskälte versucht er, mit seiner Geige am Strand jene Melodie zu spielen, die er einst für seine Frau, Nadja, komponiert hat, kann sich aber nur mehr an Teile davon erinnern. Die Begegnung mit Maximilian Wagner ist wie ein Meteoriteneinschlag in Mayas Leben gedrungen. Als hätte sie nicht schon so, als geschiedene Frau und alleinerziehende Mutter eines 14-jährigen Sohnes, Probleme genug.

Erst durch Wagner erfährt sie von der Struma. Plötzlich wird sie in alle möglichen Intrigen verwickelt, die zu ihrer Kündigung führen. Der britische und der russische Geheimdienst interessieren sich für sie, vom türkischen ganz zu schweigen. Trotz aller Turbulenzen und Unannehmlichkeiten versteht es Maya, ihr Leben neu zu organisieren. Sie fliegt nach Deutschland, um sich beim Internationalen Suchdienst die Unterlagen zu kopieren, die sie braucht, um die Geschichte von Professor Wagner und seiner Frau zu schreiben, und anschließend nach Boston, um dem Professor noch all die Fotos, Dokumente, sogar die Partitur seiner Serenade für Nadja (sie wurden damals vom deutschen Geheimdienst requiriert), kurz vor seinem Tod zurückzubringen.

Manches in diesem Roman, der übrigens aus der Perspektive von Maya erzählt wird, klingt konstruiert, sozusagen als Exempel, um Geschehenes bewusst zu machen. Was Maya über die Wagners schreibt, ist als Buch im Buch enthalten und wird ihrer Ankündigung, es handle sich dabei bloß um den Bericht einer im Schreiben ungeübten Person, manchmal nur zu gerecht. Aber insgesamt ist es ein ungemein spannend geschriebener Roman, dem es gelingt, den Leser für das, was geschehen ist, zu interessieren. Maya hat es nach all dem, was sie erfahren und erleben musste, verstanden, drei für sie überaus wichtige Personen, die armenische und die krimtatarische Großmutter sowie Wagners jüdische Frau, Nadja, mit ihrem Schicksal zu verknüpfen.

Zülfü Livaneli kann den Aufklärer in sich nicht verbergen – warum sollte er auch? Seine Sprache ist klar und deutlich, ebenso das Ziel, die Geschichtsvergessenheit seines Landes aufzubrechen. Auch ist Empathie nicht das schlechteste Mittel, Leser für unangenehme Tatsachen zu interessieren. Und das gelingt in diesem Roman allemal. ■



Zülfü Livaneli
Serenade für Nadja

Roman. Aus dem Türkischen
von Gerhard Meier. 356 S, geb., €22,60 (Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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