Burn-out der Diagnose

Dass psychische Erkrankungen so rasant steigen, ist ein künstlicher Effekt von falsch positiven und überhaupt inflationär gebrauch-ten Diagnosen. Sagt der profilierte US-amerikanische Psychiater Allan Frances – und versucht, die Normalität zu retten.

Wie kommt ein Buch über Psychiatrie dazu, von einem Verlag als der diesjährige Bestseller aufgebaut zu werden, der den Run auf Siddharta Mukherjees „Der König aller Krankheiten“ von 2012 ablösen soll? Krebs ist immerhin eine Zivilisationslandplage – aber psychischeKrankheiten? Die Verrückten?

Allen Frances trifft mit seinem Versuch, die „Normalität zu retten“, wie er schreibt, in die Mitte der Zielscheibe eines gesellschaftlichen Problems: Das Risiko, als Erwachsener eine psychische Erkrankung durchzumachen, ist ungefähr gleich hoch wie dasjenige, an Krebs zu erkranken; beide Risken liegen bei etwa 25 Prozent. Der Unterschied: Krebs lässt sich eindeutig diagnostizieren (leider oft nur mangelhaft behandeln). Die Diagnostik psychischer Krankheiten ist dagegen unsicher und vage (dafür sind sie aber im Regelfall ganz gut behandelbar, jedenfalls unter guten Bedingungen).

Dass die Erkrankungsrate in den Seelen der Menschen so rasant steigt, ist ein künstlicher Effekt von falsch positiven und überhaupt inflationär gebrauchten Diagnosen. Das ist die Kernthese des Buches von Allen Frances. Man denke nur an die hierzulande im Rahmen der Frühpensionswelle zu unrühmlicher Prominenz erlangte Diagnose des „Burn-out“ – ein Sammelsurium von vagen und unklaren Zuschreibungen für Menschen, die sich erschöpft und apathisch und dem Leben nicht (mehr) gewachsen fühlen. Entsprechend massiv vorgetragen kann diese Beschwerde leicht zur Zuerkennung einer Pension führen – und wer will hier rechten, ob zu Recht oder zu Unrecht?

Die Psychiatrie steht immer – wegen ihres Gegenstandes, des Denkens und Empfindens von Menschen – ganz nahe bei der Beurteilung, der Etikettierung von Verhalten und damit der Abgrenzung von „normal und „nicht normal“. Oft genug wurde sie zum Erfüllungsgehilfen totalitärer Machtinteressen, manchmal auch mörderischer Interessen. Sie versucht sich in den Kanon der medizinischen Wissenschaften einzureihen, aber ihr Gegenstand ist noch komplizierter als der Körper, dessen Sprache sich immerhin für einige chemische und Strahlenuntersuchungen hat entziffern lassen und so einen Teil seiner Geheimnisse preisgibt. Tumormarker kann man messen, ebenso wie Hormone oder den Blutdruck. Gedanken und Gefühle kann man nicht messen (oder nur indirekt in Testverfahren).

Frances' Buch nimmt seinen polemischen Ausgangs- und Endpunkt bei einem sperrigen Ding, nämlich dem Klassifikationssystem psychischer Erkrankungen in den USA, dem „DSM V“, das parallel zu Frances' harscher Kritik gerade mit viel Vorauspresse herauskommt. Ich kann mich noch ganz gut an die Debatten erinnern, die das DSM III hervorgerufen hat, das war so in den 1980er-Jahren. Das Akronym steht für ein wahrlich sperriges Ding: das Statistic and Diagnostic Manual of Mental Disorders, herausgegeben von der American Psychiatric Association.

Antihaltung zur Anstaltspsychiatrie

Damals war die Welt der Psychiatrie das erste Mal irgendwie in Ordnung: die Großanstalten wurden hinterfragt, reformiert, aufgelöst; die Psychiatriereform wurde eingeläutet, kleine Behandlungseinheiten geschaffen. Die Behandlungsoptionen waren vielversprechend, es gab eine Menge wirksamer Medikamente, und wir, die handelnden Jungspunde von Psychiatern, waren gleichermaßen inspiriert von Franco Basaglias italienischer Antipsychiatrie, Gregory Batesons Kommunikationstheorie und Sigmund Freuds psychodynamischem Unbewussten. Das wissenschaftliche Gerüst unserer Heilkunst schien inspiriert von Einsicht, Empathie und Solidarität und war gelebte Antihaltung gegen die gewalttätige Anstaltspsychiatrie in ihrer schrecklichen Willfährigkeit allem Totalitären gegenüber.

Niemand außer uns kannte das DSM III. Es war ein dummes Ding aus Amerika, das uns zwar akademisch beschäftigte, aber keine weitere Relevanz hatte. Nun, 30 Jahre später, kommt ein dickes Buch auf den Markt, das sich an nichts anderem abarbeitet als an der fünften Ausgabe dieses Manuals und sich an ein großes Publikum richtet, nicht nur an uns Psychiater. Ich kann dem Buch auch nur wünschen, dass es Einfluss gewinnt und möglichst breit wahrgenommen wird. Es trifft in die Mitte einer Diskussion, die sich in den letzten Jahren langsam in den medizinischen Medien entwickelt hat und mitten im gesellschaftlichen Diskurs landet – wo sie auch hingehört.

Denn das Thema von „normal“ ist nur auf der ersten Ebene die Neuauflage des DSM. Was in einem Diagnoseschema steht, ist ja keineswegs nur Wissenschaft (was das gesamte Medizinfeld betrifft), sondern eine Mischung aus Empirie, Verhandlung (genannt „Consensus“), Politik, Geschäft und Ansprüchen. Psychiatrische Diagnosen befassen sich mit dem Denken und Empfinden von Menschen und schreiben beides auf ein Etikett. Da steht dann zum Beispiel „Panikattacke“ oder „female sexual dysfunction“ oder „ADHS“ oder „Persönlichkeitsstörung“. Das Etikett macht aus einem komplizierten Zustand eine Einheit, die ein handelndes Eingreifen ermöglicht, einen Zugriff sozusagen. Zunächst für die Medizin selbst – sie soll und möchte behandeln, lindern, heilen.

Allen Frances hat die Psychiatrie in den USA mitbestimmt, er war für die vierte Ausgabe des DSM verantwortlich. Er und seine Kollegen versuchten, ein konservatives, sehr vorsichtiges Manual zu erstellen, das keinen Raum für Abenteuer und keinen Platz für Unsicherheiten lässt und das keine Geschenke an die Pharmaindustrie macht. Und doch passierte genau das. DSM IV wurde der Motor für eine ganze Epidemie neuer psychischer Erkrankungen: allen voran ADHS, Autismus und bipolare Störung bei Kindern. DSM IV hat diese „Modekrankheiten“ produziert, die im Einzelfall wohl zutreffen mögen, aber mit der Festschreibung als eigene Diagnose immer häufiger aufgetaucht sind. Ein Zirkel aus Problem, Diagnose, Marktinteresse entwickelt sich, in dem die „Wissenschaft“ nur den hilflosen Gesellen in der letzten Reihe abgibt, der sich in eine Idee seiner eigenen Bedeutung verabschiedet hat.

So ging es auch Allen Frances, der das ruhige Leben eines pensionierten Uni-Professors führte, als ihn die Debatte um die neue Ausgabe DSM V erwischte – und zwar kalt. Er traf euphorisierte jüngere Kollegen, die in einer Art Goldgräberstimmung das Manual modernisieren und anpassen wollen und – seiner Meinung nach – in die gleiche, aber vielfach vergrößerte Falle gehen, die auch schon ihn gefangen hat: In dem Wunsch, das Feintuning der Diagnosen zu schärfen, leisten sie dem gesellschaftlichen Bedürfnis Vorschub, Denken und Empfinden der Menschen noch mehr zu streamlinen, mit dem „Nichtnormalen“ rasch und effizient zurechtzukommen, am besten in Form von Pillen, die schon durch die Symbolik ihrer Darreichungsform suggerieren, dass sie die Lösung enthalten. Wer möchte Zugriff auf das Denken und Empfinden von Menschen haben? Die Medizinindustrie, allen voran die Pharmaindustrie, hat selbstredend ein klares Interesse an der Umsatzsicherung und -steigerung ihrer Produkte. So viel ist sicher.

Dabei scheut „Big Pharma“ nicht vor den gleichen Betrügereien zurück, die wir derzeit täglich aus der Finanzwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen. Frances listet in einer Tabelle, der „Hall of Shame“, die Strafen auf, die Pharmabetriebe in den letzten Jahren bezahlen mussten (von 2008 bis 2012), wegen betrügerischer Werbung, vor allem Werbung für Indikationen, für die das betreffende Medikament gar nicht zugelassen ist. Johnson & Johnson, Astra Zeneca, Novartis, Pfizer, Glaxo Smith Kline – alle finden sich hier mit Strafen von insgesamt 1,5Milliarden Dollar. Nicht, dass das die Riesen umbringen würde! Es ist nur ein dunkler Fleck auf der Spitze des Eisbergs.

Aussagekräftiger sind da schon die Umsatzzahlen für bestimmte Medikamente, etwa Ritalin, das beliebteste Präparat für die Behandlung von ADHS. Seit Anfang der 1990er-Jahre hat sich die in Deutschland verschriebene Menge vervielfacht: von 34 Kilo im Jahr 1993 auf fast 1,8 Tonnen im Jahr 2010. Der Umsatz von Novartis (einem von fünf großen Anbietern) mit Ritalin betrug 2010 weltweit 464 Millionen Dollar. 2006 waren es erst 330 Millionen Dollar gewesen. In den USA gelten erstaunliche zehn Prozent der Kinder als ADHS-krank.

Allen Frances führt sechs Gründe hierfür an: DSMIV hat ein anderes Wording für ADHS zugelassen; die Pharmaunternehmen haben dies mit exzessiver Werbung beantwortet, die Medien haben sich auf die Epidemie draufgesetzt. Eltern und Lehrer üben Druck aus, einfache Lösungen für die Bändigung unruhiger Kinder haben zu wollen: die Erniedrigung der Schwelle zum Missbrauch von Medikamenten zur Leistungssteigerung und Stimmungsmodulierung („Happy Pills“). Die scheinbar nächstliegende Erklärung für diese epidemische Entwicklung schließt Frances kategorisch aus: dass die Prävalenz von ADHS tatsächlich gestiegen ist. Kinder sind heute nicht anders als vor 30 Jahren.

Entfremdete Psychiatrie-Ideologen

Frances ist ein eloquenter und scharfzüngiger Kritiker dieser Entwicklungen. Er spart auch nicht mit Selbstkritik und geht mit seiner eigenen und der Naivität seiner Kollegen ins Gericht; mehrfach sagt er, wir hätten es besser wissen müssen! Ich finde seine Zerknirschung authentisch und sympathisch,aber ich denke nicht, dass sie viel ändern wird. Die nächste Generation von entfremdeten Psychiatrie-Ideologen hätte sich ohnehin auf den neuen Zug der Neurowissenschaften gesetzt, die jetzt alles beherrschen. Und die Jungen erfinden ohnehin schon die nächsten „Diagnosen“: Wutanfälle bei Kindern werden zur „disruptive mood regulation disorder“ (auf medizinisch: das Kind kann sich nicht benehmen), Altersvergesslichkeit wird zur „mild neurocognitive disorder“, Völlerei wird die „binge eating disorder“; am signifikantesten vielleicht: Trauer wird zur Depression – wenige Wochen nach dem Tod eines nahen Angehörigen soll man wieder fit sein, sonst: Diagnose und Happy Pills! Alles, was man mit Leidenschaft und Hingabe tut, wird eine „Verhaltenssucht“.

Frances kommt natürlich ohne Kapitalismuskritik aus – seine Vorschläge, wie Inflation eingedämmt werden kann, sind pragmatisch und unsystematisch und gehen von der prästabilisierten Harmonie von Markt und Individuum aus. Ein paar Regeln zur Eindämmung von Big Pharma, ein paar Ratschläge an die Leser, die „kluge Konsumenten“ werden sollen, das ist es dann schon.

„Kognitiver Kapitalismus“ – die Herrschaft der Wissensmächte und ihre Auswirkungen in den Köpfen der Menschen wären ein komplexerer Ansatz, Phänomene wie das „Zappelphilippsyndrom“ oder „Burn-out“ zu diskutieren. Das würde aber einen Begriff von Gesellschaft und Individuum voraussetzen, den Frances nicht hat. Das Buch ist dennoch gut, pragmatisch gesehen. ■


Allen Frances
Normal

Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden. 430S., geb., €22,70 (DuMont Buchverlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2013)

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