Ornithologen fliegen nicht

Schmidt-Dengler zu Ehren: über schnelles Zuhören, umarmte Allegorie, von Autoren gehaltene Hausgermanisten.

Im September 2011 fand am Institut für Germanistik der Universität Wien und in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur die dem Andenken Wendelin Schmidt-Denglers gewidmete Konferenz „Der Dichter und sein Germanist“ statt, von der 14 Referate im vorliegenden Band nun gedruckt vorliegen. Knapp ein Drittel der Beiträge hat vor allem den am 7. September 2008 verstorbenen Wiener Paradegermanisten mit Entertainerqualitäten im Fokus, der größere Teil widmet sich verschiedenen Beziehungen zwischen Literaturproduzenten und Literaturwissenschaftlern. Elfenbeinturm oder Leuchtturm für unsichere Gewässer, Nähe oder Distanz, Umarmung oder „neutrale“ Instanz, Herr oder Knecht? Primat oder Symbiose? Das Verhältnis der akademischen Sortierer zu ihren Textlieferanten mag ein weites Feld sein, doch gilt das Wort des Autors Jurek Becker zu diesem Thema: „Die Ornithologen wissen mehr über die Vögel als diese, aber nur wir können fliegen.“

WSD wiederum: „Manche Autoren halten ihren Hausgermanisten wie früher die Adeligen ihren Hauskomponisten.“ Schmidt-Dengler entzündete mit seinem breit gestreuten Wissen und zündender Rhetorik mit humorvollen Einsprengseln nicht nur bei Generationen von Studenten die lodernde Liebe zu seinem Fach, er suchte auch die Nähe zur zeitgenössischen Literatur und ihren Produzenten. Der Band konzentriert sich hiebei auf Ernst Jandl und die Wiener Gruppe. Ein Mitglied derselben, Friedrich Achleitner, rühmt eingangs WSD: „Ich frage mich, ob sein ungeheures Sprechtempo nicht im Zusammenhang mit einem ebenso ungeheuren, aktivierten historischen Wissen war. Ich vermute, so schnell, wie er sprach, konnte er auch zuhören.“

Dichtsprecher und Sprechdichter

Helmut Neundlinger bringt Anmerkungen zu Schmidt-Denglers Nachlass im Österreichischen Literaturarchiv, Karlheinz Rossbacher würdigt des Professors Beschäftigung mit Nestroy, über den er sagte: „Ein Volksschauspieler hat die Allegorie umarmt, und so ist Nestroy entstanden.“ Über das enge Verhältnis von „sprachenkunstler Ernst Jandl und sein universitäten professor Wendelin Schmidt Dengler“ berichtet Hannes Schweiger. Der Dichtsprecher ermöglichte 1974 dem Sprechdichter, der selbst Germanist war, poetologische Vorlesungen am Wiener Germanistik-Institut. Beide waren auch im „Dichterkrieg der 1970er-Jahre“ aktiv, den Roland Innerhofer ausführlich behandelt: Jandl, der als Spiritus Rector der neuen Grazer Autorenversammlung den Gegen-PEN-Club auch für Germanisten öffnete, hatte WSD zuerst als Schiedsrichter und Begutachter vorgesehen.

Jedenfalls hatte dieser keine Berührungsängste, er ging auch an die Ränder. Im Vorwort des von der Literaturzeitschrift „Frischfleisch“ erstellten Texthefts zur Doppel-LP „Folkclub Atlantis live“ stellte WSD 1979 die kritischen Liedermacher in die Tradition antiker Spötter.

Im allgemeineren Teil behandelt unter anderem Birgit Peter die Vereinnahmung von Raimund und Grillparzer als deutsche Volksdramatiker durch den NS-affinen Heinz Kindermann, Daniela Strigldas Naheverhältnis von Marie von Ebner-Eschenbach und ihrem Biografen Anton Bettelheim. Da finden sich viele interessante Passagen, auch wenn man manche Beiträge als Lektüre an lauen Frühlingsabenden in naturnahem Ambiente entbehrlich finden kann. ■

Stephan Kurz, Michael Rohrwasser, Daniela Strigl (Hrsg.)

Der Dichter und sein Germanist

In Memoriam Wendelin Schmidt-Dengler. 202S., brosch., €22,50 (new academic press, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2013)

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