Einmal Hölle und zurück

„Frauen sind Trägerkörper, Wirtsmenschen, Geburts- und Stillgeräte, die ausleiern.“ Sabine Scholl legt mit „Wir sind die Früchte des Zorns“ einen starken Roman über das Leben als Künst- lerin, Mutter und Tochter vor.

Wenn ein Bub geboren wird, dann ist die Familie glücklich. Wenn ein Mädchen geboren wird, dann findet man sich damit ab, man toleriert die Tatsache“, sagte die französische Malerin und Bildhauerin Louise Bourgeois (1911 bis 2010) in einem Interview. Der Hauptfigur von Sabine Scholls Roman „Wir sind die Früchte des Zorns“, der sehr eng an der Biografie der Autorin und ihrer Familiengeschichte entlangführt, dient Bourgeois als Vorbild, wie man sich von alten Mustern des Frauseins emanzipieren kann.

Denn da, wo sie herkommt, werden Mädchen traditionell nur als Arbeitskräfte willkommen geheißen. Sie helfen der Mutter, den Haushalt zu schmeißen, Hof und Garten in Schuss zu halten, während die Männer das Geld verdienen. Merkt euch: bescheiden sein, nicht Schlechtes denken, keinen Alkohol trinken. Irgendwann werden die Töchter selbst zu Müttern, und der Kreislauf setzt sich fort. Bis ihn eines Tages eine Tochter durchbricht.

Sabine Scholl ist aufgewachsen in einer ländlichen Gegend Oberösterreichs und führt in ihrem Roman bis zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als ihre Großmütter geboren wurden. Beide kamen vom Land; eine arbeitete als Magd und hatte später ihren eigenen Hof, also weiterhin nichts als Arbeit und höchstens einmal ein Stamperl Melissengeist heimlich; die andere war als Köchin beschäftigt. Die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geborene Mutter tritt selbstverständlich in die Fußstapfen ihrer Mutter, übernimmt den Hof, impft der 1959 geborenen Tochter Fleiß und Sparsamkeit ein.

Die Passagen im ersten Drittel des Romans, die von der Generation der Großmütter handeln, zählen zu den allerstärksten des Buches. Scholl greift auf die biografischen Grundkoordinaten ihrer Familienmitglieder zurück und erfüllt die Figuren in knappen, lakonischen Sätzen mit Leben. Die kurz angerissenen Details des freudlosen bäuerlichen Lebens wirken, als wäre von einer Welt die Rede, die seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr existiert, dabei liegen sie nur einige Jahrzehnte zurück.

Die Enkeltochter wird ganz anders leben. Die von ihrer Mutter besorgte Stelle bei der Bank schlägt sie aus, geht stattdessen zum Studieren nach Wien. Blankes Entsetzen bei den Eltern: „Dann nimmst du vielleicht Drogen und wir müssen für dein Begräbnis aufkommen.“ Sabine will nur weg aus den beengenden Verhältnissen. Ihr Fluchtmittel ist die Literatur. Nachdem sie die paar Bücher der Eltern durchgearbeitet hat, erweitert sie in der Bibliothek in Wels ihren Lektürekreis. Dass die Bibliothekarin (vermutlich: Waltraud Seidlhofer) selbst Autorin ist, beeindruckt sie als Jugendliche zusätzlich.

Nach Wien übersiedelt, zieht sie tatsächlich Drogensüchtige und Todessehnsüchtige an. Was ihr erst viele Jahre später bewusst werden wird – inzwischen ist sie eine Schriftstellerin und moderne Nomadin geworden und hat mit ihrem Mann, einem bildenden Künstler, in Portugal, Chicago und New York gewohnt –, ist die Tatsache, dass sie ihrer Herkunftsfamilie zwar weit davoneilen konnte, aber vieles von ihr mit sich herumträgt. So schreibt sie am liebsten über depressive, suizidale Frauen; Künstlerinnen zwar, aber davon abgesehen genau wie ihre eigene Mutter, die ein Leben in stiller Verzweiflung führt und immer wieder Selbstmordversuche unternimmt. Erst nach langer Zeit wird sie den Hof ihrer Kindheit wieder besuchen. Davor war ihr die französische Verwandtschaft ihres Mannes reizvoller erschienen. Bei der hatte alles seinen Platz, es gab ein Sommerhaus in Österreich und sogar ein Schloss in Frankreich, rauschende Feste und wohlüberlegte Speisefolgen. Doch egal, ob Adel oder Kleinbürger: Hier wie dort werden die Frauen eines Tages von ihren Männer sitzen gelassen.

Am Ende lebt Sabine als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in Berlin. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, wie so viele Väter in diesem Roman, die munter Familien gründen, Kinder in die Welt setzen, bis sie zur nächsten Frau weiterziehen. Denn: „Frauen sind Trägerkörper, Wirtsmenschen, Geburts- und Stillgeräte, die ausleiern, schadhaft sind und entsorgt werden. Ich schlüpfe in Odysseus' Haut, um ihre Geschichten zu entdecken. Sonst kann ich nichts ausrichten gegen das Verschwinden und die Angst davor.“

Es war höchste Zeit, dass Sabine Scholl nach literarischen Stadtführern und moderat erfolgreichen Krimis wieder einen neuen Roman vorlegt. Ihre Publikationslaufbahn ist von Unterbrechungen und Verlagswechseln geprägt, was auch damit zu tun hat, dass sie es, entgegen dem Rat vieler Kolleginnen, gewagt hat, Kinder zu bekommen. Leicht ist es gewiss nicht, Schreiben und kleine Kinder unter einen Hut zu bringen, wie ihr Roman zeigt. Immer wieder ist die Hauptfigur – in Chicago oder New York – unterwegs, um irgendwo einen Platz zu finden, an dem sie ein paar Stunden schreiben kann. Was Virgina Woolf gefordert hat, fehlt ihr: ein eigenes Zimmer und Ruhe zum Arbeiten.

„Wir sind die Früchte des Zorns“ ist ein wichtiger, trotz der Vergangenheitsbezüge und seines Einbands in Retrooptik, durchaus aktueller Roman über die Frage, wie man als Frau und Mutter leben kann, ohne sich dabei selbst als Künstlerin und Mensch aus den Augen zu verlieren. „Bist du überhaupt noch für die Sache der Frauen?“, fragt eine Wiener Freundin die Autorin gegen Ende des Buches. Als Alleinerziehende hat sie dafür gerade keinen Kopf: „Keine Ahnung, was du damit meinst.“

Dass der Roman dann doch noch mit einer Wendung ins Positive endet, macht die vorangegangenen Mühen und Kämpfe nicht ungeschehen. Aber sie waren nicht umsonst. Das vorangestellte Zitat von Louise Bourgeois trifft es wunderbar: „I have been to hell and back. And let me tell you, it was wonderful.“ ■

Sabine Scholl

Wir sind die Früchte des Zorns

Roman. 290S., geb., € 20,60 (Secession Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2013)

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