Wenn das der Vater wüsste

Die Jesus-Autobiografie des im heurigen Mai verstorbenen Schweizers Jürg Amann.

Vermutlich hatte er seine größten literarischen Erfolge in Österreich, nicht nur wegen seiner Kafka-Dissertation bei Emil Staiger, sondern vor allem wegen des Bachmann-Preises, der ihm im Jahr 1982 zugesprochen wurde, als noch Prosa ausgezeichnet wurde, die diese Gattungsbezeichnung verdient. Sanft angefasst wurde von der Jury – unter Marcel Reich-Ranicki – damals niemand. Umso sanfter und sensibler war der exemplarische Schriftsteller, der kürzlich nach langer und schwerer (Krebs-)Erkrankung sowie unheilbarer Herzverletzung infolge zerbrochener Liebe 65-jährig in Zürich gestorben ist.

In Österreich, wo er wegen seiner sympathisch-aufrichtigen Art zahlreiche Schriftstellerfreundinnen und -freunde hatte, war er einer der bekanntesten Schweizer Autoren. Mit dem Text „Rondo“, der ein langes Requiem und teilweise wohl seine eigene Mutter-Sohn-Geschichte erzählt, hatte er in Klagenfurt einen seiner größten literarischen Erfolge, ohne zu ahnen, dass auch sein letzter Kampf ein langer sein würde.

Jürg Amann hat viele Textformen beherrscht, am besten war er aber wohl in der Prosa, mit der er gesellschaftliche und persönliche Traumata sowie Liebe und Tod bearbeitete. Seine Literatur hatte eine poetische Energie, die nur bei wenigen Schriftstellern zu finden ist, dennoch wurde er als Analytiker des Trostlosen apostrophiert. In seinen letzten Lebensjahren war er sozusagen ein Verwandlungskünstler, der sich fand, wenn er andere suchte, beispielsweise den erbarmungslosen Auschwitz-Massenmörder Rudolf Höß, über den er das Buch „Der Kommandant“ schrieb.

Geschult an der Sprache Kafkas

Sein letztes Buch zu Lebzeiten war dann das genaue Gegenteil. Mit seiner Autobiografie (!) über Jesus Christus hat er sich in das Innen- und Seelenleben eines der größten Menschenfreunde und Wundergestalten der Welt eingefühlt, um den Fragen nachzuspüren, was mit einem Menschen geschieht, dem durch besondere Zeitumstände, Prophezeiungen und eigene geistige Veranlagung nicht weniger als Göttlichkeit aufgebürdet wird. Antworten gelingen Jürg Amann mit den Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, aus denen er die Biografie des Ich-Erzählers und berühmtesten Heilsbringers der Menschheitsgeschichte extrahiert und komprimiert. Die Sprache, die er gebraucht, ist an einem ihrer größten Meister geschult. Das präzise Kafka-Deutsch steht nicht zwischen, sondern in den Zeilen, ohne den Biografen zum Epigonen zu machen. Diese Leistung ist möglich. Der Beweis ist das Buch „Vater, warum hast du mich verlassen“.

Erfreuen wird der Band interessierte Leserinnen und Leser aus der Amann-Gemeinde. Konservative oder orthodoxe Theologen, mithin Bischöfe und Kardinäle, werden nicht jede Zeile unterzeichnen wollen, weil der Schriftsteller – Gott sei Dank – etwas weiter ist als die sogenannte offizielle Kirche. Jürg Amann schreibt über Frauen so wohltuend gleichberechtigend und emanzipiert, wie sie von Jesus Christus wahrscheinlich schon vor ungefähr 2000 Jahren behandelt worden sind. Dieses Buch sollte man jeder Christin und jedem Christen – schon rein aus Bildungsgründen – spätestens zur Firmung oder Konfirmation schenken. ■

Jürg Amann

Vater, warum hast du mich verlassen

Die Autobiografie Jesu Christi.
112S., geb., €15,40 (Arche Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2013)

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