Alle brauchen einen Zaren

Manchmal möchte man Swetlana Alexijewitschs Berichte aus der postsowjetischen Staatenwelt weglegen, so weh tun sie. Aber kaum wo erfährt man mehr über das Leben der einfachen Men-schen. „Secondhand-Zeit“: ein expressionistisches Monumentalgemälde osteuropäischen Leids.

Leszek Kolakowski, Ernesto Cardinal, George F. Kennan, ManèsSperber, Václav Havel, Martin Walser, Claudio Magris, Liao Yiwu – das sind nur einige der klingenden Namen, die bisher mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurden. Sie zeigen auch, dass der Stiftungsrat, der diesen Friedenspreis vergibt, viel weitsichtiger und politisch viel mutiger als die Schwedische Akademie ist, die alljährlich den Literaturnobelpreis vergibt. Am 13.Oktober wird der diesjährige Friedenspreis der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch überreicht. Damit hat der Stiftungsratauch in diesem Jahr eine Entscheidung gefällt, der nur applaudiert werden kann.

Es ist erneut einzigartige politische Literatur, die in der Frankfurter Paulskirche zu Ehren kommen wird. Dabei gibt es durchaus frappante Ähnlichkeiten zwischen der Weißrussin Alexijewitsch und dem Preisträger von 2012, dem Chinesen Liao Yiwu: Das Interesse der beiden gilt denen da unten, gilt dem „Bodensatz der Gesellschaft“, wie es Liao Yiwu beschrieben hat. Die einfachen Menschen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sie werden eindringlich befragt und die Interviews dann literarisch bearbeitet. Und immer wieder aufs Neue erstaunt, welch ungeheuerliche, kraftvolle, atemberaubende, dramatische Geschichten gerade diese „Normalbürger“, auf die sonst nie die Scheinwerfer gerichtet werden, zu erzählen haben. Alexijewitsch erklärt ihren Zugang so: „Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers.“

Allerdings: Swetlana Alexijewitschs jüngstes Buch, „Secondhand-Zeit“, das am kommenden Montag in die Buchhandlungen kommt, enthält teilweise dermaßen schwere, tragische Lesekost, dass man es manchmal am liebsten zuschlagen, weglegen und durchatmen würde. Würden sich die Tränen, in die ihre Gesprächspartnerinnen bei ihren Erzählungen immer wieder ausbrechen, materialisieren: Dieses Buch würde sich augenblicklich in einem Sturzbach des Leides auflösen.

Erzählt wird vom „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ in der postsowjetischen Staatenwelt – Geschichten aus Russland, Weißrussland, Aserbaidschan, Tadschikistan, Abchasien. Überwiegend sind es Frauen, die berichten. Alexijewitsch hat offenbar, wie die österreichische Fernsehjournalistin Elisabeth T. Spira, die besondere Gabe, Vertrauen zu wecken, sodass sich ihre Gegenüber öffnen und drauflossprudeln. Alexijewitsch selbst bleibt meist im Hintergrund, stellt nur kurze Fragen; so jedenfalls vermittelt sie es in diesem Buch. Sie kondensiert dann die Gespräche, erklärt kurz Hintergründe, hält knapp Gefühlsregungen ihrer Gegenüber fest. Daraus ergeben sich ein expressionistisches Monumentalgemälde osteuropäischen Leidens und literarische Skizzen, die an düstere Szenen aus Filmen von Andrej Tarkowskij erinnern.

Die Helden dieses Buches sind die Frauen. Vor allem sie sind es, die die Last des (post-)kommunistischen Alltags getragen haben und tragen: ständig saufende Männer, zerrüttete Familien, traumatisierte Kinder. Oft genug müssen diese Frauen neben Haushalt und Kindererziehung auch noch das Geld für das Überleben der Familien aufbringen, weil die Männer ihre Gehälter sogleich in Wodka verflüssigen. „Unsere Männer sind Märtyrer“, zitiert Alexijewitsch eine Musikerin, „sie alle haben ein Trauma – entweder vom Krieg oder vom Gefängnis. Vom Lager. Krieg und Lager – das sind die beiden Hauptwörter in Russland. Die russische Frau hatte nie einen normalen Mann. Sie pflegt und heilt. Behandelt ihren Mann ein bisschen wie einen Helden, ein bisschen wie ein Kind. Sie rettet ihn. Bis heute.“

Im ganzen Buch verteilt finden sich kluge, aufschlussreiche Bemerkungen und Beobachtungen zur Sowjetunion und zu Russland. Etwa: „Immer liegt die Idee in der Luft, dass Russland etwas schaffen, der Welt etwas Außergewöhnliches beweisen muss. Einvon Gott auserwähltes Volk. Ein besonderer russischer Weg.“ Oder: „Wir sind unter Tätern und Opfern aufgewachsen. Für uns ist dieses Zusammenleben normal. Es gibt keine Grenze zwischen Krieg und Frieden. Es herrscht immer Krieg. Wenn man den Fernseher anmacht – da reden sie alle Kriminellenjargon, Politiker, Unternehmer, auch der Präsident. Ablöse, schmieren, absahnen. EinMenschenleben ist einen Scheißdreck wert. Wie im Lager. Warum wir Stalin nicht verurteilt haben? Um Stalin zu verurteilen,müssten wir unsere Angehörigen und Freunde verurteilen.“

Oder: „Wir haben im gesamten Verlauf unserer Geschichte immer nur überlebt, aber nie gelebt.“ Oder: „Unser Land ist ein Zarenland, von der Mentalität her, im Unterbewusstsein. Von den Genen her. Alle brauchen einen Zaren.“ Oder: „Alle hatten vor etwas Angst, auch diejenigen, vor denen man Angst hatte.“ Und dennoch. Immer wieder zitiert Alexijewitsch Leute, die die Sowjetunion und den Kommunismus nostalgisch verklären („Es gab nicht nur Lager, Spitzeleien und den Eisernen Vorhang, das war aber auch eine gerechte, klare Welt: mit allen teilen, die Schwachen schützen, Mitgefühl haben, nicht alles an sich raffen“), Leute, die dem Imperium nachtrauern und die das, was nach dem Kollaps 1991 gekommen ist, verfluchen.

Überall nur Ellbogen, Ellbogen...

„Sowki“ heißen diese Nostalgiker auf Russisch – Sowjetmenschen, die sich nie mit dem postsozialistischen Leben abgefunden haben. „Ich höre von allen Seiten nur: ,Das Leben ist Kampf, der Starke siegt über den Schwachen, das ist ein Naturgesetz. Man braucht Hörner und Hufe und einen Panzer aus Eisen, die Schwachen kann keiner gebrauchen.‘ Überall nur Ellbogen, Ellbogen, Ellbogen“, klagt selbst eine Architektin, die im Alter von vier Monaten mit ihrer Mutter ins Straflager in Kasachstan musste, mit drei Jahren in die Kinderbaracke des Lagers gesteckt wurde und mit fünf Jahren ins Kinderheim kam.

Es ist der Sohn dieser Architektin, der sein Gespräch mit seinem Fastschwiegervater wiedergibt, einem früheren Tschekisten, der als Henker Stalins in einer Hinrichtungsstätte gewirkt hat: „Die Arbeit war dort kein Zuckerschlecken! Wenn einer nicht gleich tot war, fiel er um und quiekte wie ein Schwein. Am Ende der Schicht brachte man uns zwei Eimer – einen voll mit Wodka und einen voll mit Kölnischwasser. Damit wuschen wir uns den Oberkörper. Blut hat einen besonders intensiven Geruch. Ich hatte einen Schäferhund, der ging mir immer aus dem Weg, wenn ich von der Arbeit kam.“

Eben Schilderungen wie diese machen die Lektüre manchmal schwer erträglich. Alexijewitsch beschreibt auch nur wenige Momente, in denen so etwas wie Lebensfreude durchschimmert. Insofern ist dies ein sehr traurig stimmendes Buch. Aber trotzdem ist es ein sehr, sehr wichtiges Buch zum Leiden und Sterben in Osteuropa. ■

Swetlana Alexijewitsch

Secondhand-Zeit

Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. 576 S., geb., €28,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.