Geliebte, Geliebte, Geliebte

Nach dem Selbstmord seiner Frau fährt der Held in Terézia Moras Roman mit der Urne quer über den Balkan bis zum Ararat. Das Leiden, an dem sie zugrunde ging, geht quasi auf ihn über. „Das Ungeheuer“: ein großer Roman über Trauer, Schmerz und Reisen. Pechschwarz, tieftraurig, düster.

Wer Terézia Moras vorigen Roman, „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, gelesen hat, kennt ihn schon, den übergewichtigen, schwitzenden, unbekümmerten, stoisch-gleichmütigen IT-Experten Darius Kopp, eine Mischung aus Oblomow, Pinneberg und Schwejk, der seine Karriere nicht einem brillanten Kopf zu verdanken hat, sondern einer Portion Glück und der Fähigkeit, anderen sympathisch zu sein. Darius Kopp ist auch der Held des neuen Romans, „Das Ungeheuer“, der dritte Roman der gebürtigen Ungarin, die seit 1990in Berlin lebt und bereits mit ihrem ersten Prosawerk, dem Erzählband „Seltsame Materie“, aufhorchen ließ, als sie 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

„Das Ungeheuer“ ist quasi die Fortführung des ersten Kopp-Romans. Vielleicht könnte man auch sagen, dieser zweite Roman ist ein etwas ausführlicherer Kommentar zu Darius Kopp, eine Ergänzung zum ersten Roman. In beiden Romanen spielt er die Hauptrolle, beide beginnen sogar mit den gleichen Sätzen. Aber diesmal holt die Erzählung weiter aus, wird das Geschehen des ersten Buches in einen größeren Kontext eingebettet und fortgesetzt. Leicht hatte es Kopp schon im ersten Buch nicht – er wird Opfer der New-Economy-Krise, verliert seinen Job, und die Beziehung zu seiner Frau ist auch nicht ganz einfach, denn außer ihrer Liebe haben die belesene, sensible Flora, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, aber eigentlich Übersetzerin sein möchte, und der dickhäutige, rationale Technikfreak Kopp nicht viel gemeinsam.

Einiges von dem, was „Der einzige Mannauf dem Kontinent“ nur anreißt, wird jetzt erst richtig ausgeführt. In „Das Ungeheuer“ bohrt Mora tiefer, nun trifft es Kopp viel schlimmer. Auf die berufliche Krise, die der erste Roman vor allem beschreibt, folgt die private, die sich dort nur andeutet. Und diese ist viel heftiger. Sie ist existenziell: Kopp verliert den für ihn wichtigsten Menschen auf der Welt: seine Frau. Flora bringt sich vier Tage vor ihrem 38.Geburtstag um. Sie erhängt sich im Wald.

Aus der gemeinsamen Wohnung war Flora einige Zeit zuvor bereits ausgezogen, lebte am Waldrand in einer Art Kommune auf einem Bauernhof. Kopp bleibt zurück, allein, als Trauernder, der den Verlust seiner Geliebten verwinden und damit umgehen muss, dass er Flora, „die Liebe seines Lebens“, nicht hat retten können. Das ist die Ausgangssituation, in die Mora ihren Helden Darius Kopp jetzt stellt. Diesmal droht sich nicht langsam ein bekannter, gewohnter Alltag aufzulösen, diesmal ist schon alles zerbrochen, zerstört, dahin.

Entsprechend düsterer ist die Stimmung des neuen Kopp-Romans, entsprechend trauriger, auch langsamer der Duktus, in dem „Das Ungeheuer“ erzählt wird. Sonst ist der neue Roman ähnlich konzipiert wie sein Vorgänger: Wieder fehlt ein auktorialer Erzähler, es wird ausschließlich personal erzählt, und wieder spielt die Geschichte fast zur Gänze in den Köpfen der Hauptfiguren, Zeit- und Ortsprünge inklusive. Und da in „Das Ungeheuer“ Floras Tagebuch, das Kopp nach ihrem Tod liest, eine wesentlich größere Rolle spielt, gibt es diesmal zwei Erzählebenen, die im Buch auch parallel gedruckt sind: Die obere Seitenhälfte gehört Kopp, die untere Flora. Gelesen werden können die insgesamt 22 Kapitel aber einfach chronologisch.

Verfangen in einer Endlosschleife

Zunächst ist Kopp über die Nachricht von Floras Tod einfach nur fassungslos, so fassungslos, dass er in eine Art Starre verfällt. Unfähig zu arbeiten, bleibt er seinem neuen Job, den er nach seinem letzten Rauswurf, mit dem der erste Roman schließt, an Land gezogen hat, fern, sperrt sich monatelang in seiner Wohnung ein und ernährt sich von Pizza, die er bei verschiedenen Lieferservices bestellt. Irgendwann holt ihn sein bester Freund, Juri, aus dieser Endlosschleife heraus, bringt ihn zu sich und möchte ihm dabei helfen, sich zu „reintegrieren“.

Er besorgt ihm ein Vorstellungsgespräch, Kopp geht hin, aber dieser erste Tag draußen in der Welt gerät zum Desaster und endet damit, dass Kopp beschließt, alles hinter sich zu lassen und wegzufahren, um einen Platz zu suchen, an dem er Floras Urne begraben kann. Denn auch das ist noch nicht geschehen, und außer ihm, dem verlassenen Ehemann, gibt es niemanden, der sich darum kümmern könnte. Wer in Ungarn von ihren Verwandten noch lebt, weiß Kopp nicht. Also setzt er sich in sein Auto und macht sich auf den Weg dorthin, in das Dorf, aus dem Flora kommt, auf der Suche nach Verwandten, nach ihr selbst. Mit dabei hat er Floras Laptop, ein Geschenk von ihm an sie, auf dem ihr Tagebuch abgespeichert ist.

Viel findet er auf seiner Reise aber nicht über Floras Herkunft heraus, und auch die Urne bleibt in einem Karton im Kofferraum seines Wagens – und zwar die ganze Reise über, die sich über Monate hinzieht und Kopp von Ungarn nach Kroatien, weiter nachAlbanien, Bulgarien, Georgien, Armenien bis nach Athen führt. Kopp lässt sich treiben, begegnet den unterschiedlichsten Charakteren, trifft zufällig seinen Vater, überlebt eine Hirnhautentzündung in Tiflis, einen Schneesturm und eine Nacht in einem armenischen Edelpuff und landet schließlich bei seinem alten Freund Stavridis in Athen, der ihm so lange Asyl gewährt, bis er bereit ist „heimzukehren“.

Zwischendurch liest Kopp Floras Notizen und erkennt, wie wenig er über seine eigene Ehefrau gewusst hat. Flora war in psychotherapeutischer Behandlung, litt an einer „bipolaren affektiven Psychose. Früher manisch-depressive Störung genannt“. Wodurchdiese ausgelöst wurde, bleibt fraglich, mögliche Auslöser ergeben sich durch Floras Notizen viele: Da ist einmal die abwesende Mutter, die schwierige Kindheit, dann die dauernde existenzielle Not, unter der sie als Studentin leidet, die vielen Demütigungen, die sie als Ausländerin einstecken muss, und die desaströsen Männerbeziehungen, die alle nirgendwohin führen. Bis sie Kopp kennen lernt, der ihr materielle Sicherheit bietet, sie heiratet, sie liebt. Aber glücklich kann auch Kopp sie nicht machen, ihren Aufzeichnungen nach blieb sie bis zuletzt eine Einsame, Leidende, in deren Gedanken Kopp praktisch keine Rolle spielt. Er hat sie ohnehin nie wirklich verstanden, aber das wird ihm erst jetzt, nach ihrem Tod, klar.

„Das Ungeheuer“ erzählt davon, was passiert, „wenn alles zerfällt“: Einmal sind die Auslöser dafür der Selbstmord der Geliebtenund die erschütternde Entdeckung, die eigene Ehefrau nie wirklich gekannt zu haben; einmal ist es ein Leben, das als unerträglich empfunden wird, eine psychische Krankheit. Beide Male geht es um die Verzweiflung darüber, einem schmerzlichen psychischen Zustand, dem Leiden an einem abstrakten, unsichtbaren, fürchterlichen Schmerz, der wie ein „Ungeheuer“ über das eigene Leben hereinbricht, nicht entkommen zu können: Kopp verzweifelt monatelang an der Tatsache, Flora für immer verloren zu haben, und Flora umgekehrt verzweifelte, als sie noch am Leben war, daran, ihrer seelischen Not nicht entkommen, ihre Depression nicht besiegen zu können.

Beide Geschichten für sich sind schon pechschwarz, tieftraurig, düster. Dass sie im Buch tatsächlich auch parallel geführt werden, lässt sie umso tragischer erscheinen. Es ist kein Dialog, den die beiden Eheleute führen, es war auch nie einer, weil Kopp seine Ehefrau gar nie richtig „erkannt“ hat. Es sind Monologe zweier Verzweifelter, Einsamer, die nebeneinanderstehen, im Buch getrennt durch einen schwarzen Strich, im Leben getrennt durch den Tod.

Mit welch meisterlichem psychologischen Wissen Mora beide Perspektiven zu schildern weiß, ist beeindruckend. Das ist Katharsis pur, die man als Leser durchmacht, wenn man Kopp begleitet, wie er kopflos quer durch Südosteuropa stolpert und versucht, mit seinem alten Leben abzuschließen, in Gedanken ständig bei Flora, in der gemeinsamen Vergangenheit, immer wieder verzweifelt seufzt: „Geliebte, Geliebte, Geliebte“, und immer wieder erkennen muss: Es ist vergeblich, Flora wird nicht zurückkommen, sie ist tot, ich bin allein. Nicht weniger packend sind Floras teils wirre, teils glasklare, kluge, zuweilen poetische Notizen,das Psychogramm einer Frau, der das Leben ein einziger unendlicher Schmerz ist.

Diese Schwere und Tiefe der doppelt tragischen Geschichte muss man als Leser aushalten. Vor allem die Schilderungen in Floras Tagebuch gehen an die Substanz. Zum Glück ist Kopp aber einer, der das Talent hat, sich auf Reisen in die unmöglichsten Situationen zu bringen, denen er dann mit erstaunlichem Gleichmut und viel Fatalismus begegnet, sodass man immer wieder auch schmunzeln kann – etwa, wenn Kopp an der armenisch-georgischen Grenze den Zöllnern zu erklären versucht, dass es sich bei dem seltsamen Behältnis im Kofferraum tatsächlich um die Urne seiner Frau handelt. Überhaupt liest sich diese Reiseschilderung quer über die Balkanhalbinsel, in der Mora geschickt immer wieder die Hauptthemen Liebe, Beziehung, Trauer einwebt, brillant. Sie ist sozusagen der Bonus zum psychologischen Gewinn, den man als Leser aus Kopps innerer „Reise“ ohnehin zieht.

Getragen wird die Romankonstruktion von der konsequent durchgehaltenen personalen Erzählperspektive, bei der das meiste direkt aus den Köpfen der beiden Hauptfiguren heraus berichtet wird. Ein Nachteil, den dieser „stream of consciousness“ hat, ist eine gewisse Schwerfälligkeit. Es braucht viele Zeilen, bis etwas gesagt ist, denn was gesagt wird, wird in aller Ausführlichkeit gesagt, gedanklich wird nichts gerafft. So erklären sich denn auch die fast 700 Seiten Umfang, die „Das Ungeheuer“ hat. Noch länger hätte der Roman sicher nicht zu sein brauchen, etwas kürzer hätte er wohl sein können, zumal man einiges ja bereits aus „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ kennt.

Moras Figuren zum Anfassen

Wozu sich diese Erzählperspektive auch nicht eignet, ist, Antworten auf die Fragen anzubieten, die das Erzählte aufwirft. Und das Erzählte wirft einige Fragen auf. Hätte Kopp Flora helfen können? Hätte er erkennen müssen, wie es um sie stand? Hätte Flora sich nicht umgebracht, hätte sie einen anderen, sensibleren, ihr ähnlicheren Mann getroffen als Kopp? Hat Kopp ihren Tod mitverschuldet? Darum, allzu simple Antworten anzubieten, dürfte es Mora aber nicht gehen. Eher möchte sie mit den Figuren mitfühlen lassen, Empathie wecken. Das gelingt ihr bestens. Menschlicher, angreifbarer, realer können literarische Figuren kaum sein.

Nur das Ende erscheint dann nicht ganz stimmig: Ganz knapp vor Schluss löst Kopp das Rätsel über das endgültige Beziehungsaus zwischen Flora und ihm auf. Und da entpuppt sich Kopp plötzlich als gewalttätiger, als man ihn sich bis dahin vorgestellt hat. Die gelungene Verweigerung, eine allzu klareTäter-Opfer-Struktur zu etablieren, scheint aufgehoben, und die Nähe, die man zu Kopp über viele Seiten hinweg aufgebaut hat, ist leider beinahe dahin.

Dennoch: Terézia Mora ist eine der begabtesten, gleichzeitig auch eigenwilligsten Erzählerinnen der aktuellen deutschsprachigen Literatur, „Das Ungeheuer“, wie schon seine drei Vorgänger, ein gelungenes Buch, das alles einlöst, was es sich vornimmt zu sein, und völlig zu Recht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis zu finden ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)

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