Hops und plops

Der „Neue Realismus“ des Markus Gabriel behauptet im Widerspruch zur Metaphysik, dass es keine Welt ohne Zuschauer gibt; und im Widerspruch zur Postmoderne behauptet er, dass es eine Welt ohne Zuschauer gibt. Ein ontologisches Larifari.

Es ist erst einige Jahre her, seit uns der etablierte Shootingstar des Denkens, Richard David Precht, Jahrgang 1964, die charmante Frage stellte: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Seither wussten wir nicht, ob und wie viele wir sind. Nun gibt uns Markus Gabriel, Jahrgang 1980, Neo-Shootingstar des Denkens, eine Antwort: „Unzählig viele!“

Das wird Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht ein bisschen viel vorkommen. Doch Gabriel entwickelt in seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ eine Argumentation, die kein Geringerer als der Denkwildfang Slavoj Žižek gerühmt hat: „Eine großartige Gedankenübung.“ Üben wir also mit, so gut wir eben können. Demnach bin ich unzählig viele, weil es buchstäblich unzählig viele „Sinnfelder“ gibt, in denen ich, hops und plops, auftauche – möglicherweise öfter, als mir lieb ist.

Ach, leicht verstehe ich das nicht, ich, der ich Jahr für Jahr denselben alten Realismus rauf- und runterdoziere, wonach sich alles zu der Welt, in der wir alle leben, zusammenfügt. Doch rasch erfahre ich von Gabriel, dass dies eine weitverbreitete Irrlehre sei. So etwa hängt der Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der in Australien einen Wirbelsturm auslöst, mit – sagen wir – meinem Biofrühstückskipferl, das mir gerade im Magen liegt, gar nicht zusammen. Ja, es gibt unzählig viele Dinge in unzählig vielen kleinen und großen, realen und irrealen Feldern, die gar nicht zusammenhängen.

„Man muss sich nicht erst“, schreibt Gabriel, „durch nahezu unverständliche Klassiker der Philosophie durchbeißen, um zu verstehen, was hier vor sich geht.“ Schade, da hätte ich mich also mein Lebtag lang umsonst durchgebissen. Laut Gabriel geht mit ihm, Gabriel, die Epoche der Metaphysik ebenso zu Ende wie jene der Postmoderne. Jetzt kommt der „Neue Realismus“, der, so lese ich ein wenig neidisch, „bei einem Mittagessen in Neapel am 23. 6. 2011, gegen 13:30 Uhr“ aus der Taufe gehoben wurde.

Der „Neue Realismus“ behauptet im Widerspruch zur Metaphysik, dass es keine Welt ohne Zuschauer gibt; und im Widerspruch zur Postmoderne behauptet er, dass es eine Welt ohne Zuschauer gibt. „Die Welt ist weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer.“ Daraus folgt laut Gabriel, dass sich die Welt erkennen lässt, „wie sie an sich ist“ – und das, obwohl es sie nicht gibt! Hm?

Begriffsstutzig lese ich weiter, und ich lese den Satz, der eines Zen-Meisters würdig wäre: „Es gibt auch alles, was es nicht gibt.“ Wenn ich an „Einhörner in Polizeiuniform auf der Rückseite des Mondes“ denke (was ich bisher leider verabsäumte), dann existieren Einhörner in Polizeiuniform auf der Rückseite des Mondes. Sie existieren nämlich in meinen Gedanken. Mir, dem hausbackenen Realisten, kommt vor, hier werde ein billiges Spiel mit dem Wort „Existenz“ getrieben.

Nicht jede Existenz ist eine reale, sagt Gabriel. Eben. „Unsere erste große Erkenntnis“ lautet daher: „Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld. Wasser kann zu einer Flasche gehören, ein Gedanke zu meiner Weltanschauung, Menschen können als Staatsbürger zu Staaten gehören, die Zahl 3 gehört zu den natürlichen Zahlen, und Moleküle gehören zum Universum.“

Begriffsstutzig – schon wieder! – starre ich auf Gabriels erste große Erkenntnis. Woher kommt da, aus der Flasche, der Sinn? Nun, der Sinn kommt vom Sinn, das hätte mir auch gleich in den Sinn kommen können. Da ist erstens der Sinn, der daher kommt, dass die Flasche nicht einfach eine sinnlose Flasche ist, sondern eine, aus der sich trinken lässt. Und zweitens: Was die Existenz des Wassers in der Flasche betrifft, dafür haben wir gleich mehrere Sinne, genaugenommen fünf. Das macht sechs Sinnfelder, nicht wahr?

Mich beschleicht der Verdacht, beim „Neuen Realismus“ handle es sich um eine Spaßphilosophie, ein ontologisches Larifari, gravitätisch „Sinnfeldontologie“ genannt. Kollege Precht zum Bespiel gibt es in unzählig vielen Sinnfeldern: in der Populärphilosophie als Philosoph, im Zweiten Deutschen Fernsehen als TV-Star „Precht“, in der Physik als Atomhaufen, im feuchten Traum als Traummann und so weiter. Die Welt hingegen, als die Summe aller möglichen Erscheinungen in allen möglichen Sinnfeldern, hat – aufgepasst, das ist Gabriels zweite große Erkenntnis – kein Sinnfeld. Gar keines. Sie ist, sinnfeldontologisch gesprochen, ein Nichts.

Und der Sinn Ihres Lebens? Laut Gabriel brauchen Sie sich, unbeschadet der oft behaupteten Sinnlosigkeit der Welt, die es – hahaha! – ohnehin nicht gibt, keine Sorgen zu machen: „Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens liegt im Sinn selbst. Der Sinn des Lebens ist das Leben, die Auseinandersetzung mit unendlichem Sinn.“ Mir bleibt das Lachen im Hals stecken: In meinem Alter ist der Sinn des Leben für immer mehr Menschen, die ich kenne, Altersheim, Alzheimer und Tod. Super. Mir reicht's.

Bin ich, der in die Jahre gekommene Realist, vielleicht allzu pingelig? Es hat in der Kunst des Denkens stets eine höhere Form des Entertainments gegeben: „Alles fließt“, „Nichts bewegt sich“, „Das Nichts nichtet“. Aber ich fürchte, Markus Gabriel, einst jüngster Professor für Philosophie in Bonn, meint es mit seinem Epochenanspruchernst. Dabei sind wir bloß Zwerge, die, auf den Schultern von Geistesriesen stehen. Groß ist die Verlockung, uns als epochale Besserwisser zu gebärden.

Grund genug, über uns selbst zu lachen. Meine Empfehlung: Lachend das Buch von Gabriel lesen! Wer weiß, vielleicht gibt es die Welt ja wirklich nicht – und ihr Fehlen wurde erst am 23. 6. 2011 bemerkt, unter demsinnfeldontologischen Einfluss der neapolitanischen Küche samt ihren inspirierenden Weinen. ■

Markus Gabriel

Warum es die Welt nicht gibt

272S., geb., €18,50 (Ullstein Verlag,
Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2013)

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