Weiß man je, wohin man geht?

Unter den Aufklärern war er der Vorwitzigste und Wagemutigste. Gegen sich selbst zu denken war für Denis Diderot mehr als nur eine Methode. Sein Lebenswerk, die „Enzyklopädie“, zielte auf die Besserung gesellschaftlicher Zustände ab. Zum 300. Geburtstag einer Lichtgestalt.

Er war das hellste Gestirn am sternenreichen Firmament der französischen Aufklärung: Bayle, Condorcet, d'Alembert, Montesquieu, Rousseau, Voltaire – sie alle leuchteten auf ihre Weise. Denis Diderot aber, der Universalist und Erfinder des Jahrhundertwerks der „Enzyklopädie“, strahlte im damaligen Europa in alle Richtungen des geistigen Lebens. Seine vielseitigen Unternehmungen als Philosoph, Essayist, Theater- und Romanautor, Übersetzer, Kunsttheoretiker und Briefeschreiber setzten die Segel für jene umfassende Expedition in die Natur des Menschen, die man das „Abenteuer Aufklärung“ genannt hat.

Sein Werk ist ein Kosmos der unterschiedlichsten Gattungen und Themen. Neben den literarischen Experimenten mit Prosa und Dramen und den philosophischen Betrachtungen enthält es Abhandlungen zur Geschichte, Naturwissenschaft, Länderkunde, Malerei, Medizin, Musik und Schauspielkunst, Reflexionen über das Theaterwesen, die Kunstsalons und das Liebesleben, politische Denkschriften – und eine Unzahl lexikalischer Artikel. Dazu kommen die vielen Liebesbriefe an die zeitlebens verehrte Sophie Volland. Er hat sich verschwendet – und wurde dafür von der Mit- und Nachwelt heftig kritisiert. Dieses Genie der unermüdlichen Erkenntnisneugier und permanenten Wissensmehrung war in ständiger Bewegung. „Quecksilbrig“ ist das Wort, das die Biografen für sein Temperament mit Vorliebe einsetzen.

Das Paradox als Art des Denkens

Unter seinen Zeitgenossen war er der Vorwitzigste und Wagemutigste. Er war ausschweifend im Denken wie im Parlieren und unermüdlich im Anpacken der vielfältigen intellektuellen Aufgaben, die er sich stellte. Wahrheit und Widerspruch waren dabei siamesisch verschwistert. „Das Paradox war eine Art des Denkens, die Diderot reizte“, schreibt sein Biograf Pierre Lepape. „Das mäeutische Verfahren des Sokrates, durch Fragen zur richtigen Erkenntnis zu gelangen, fand er besonders fruchtbar. Gegen sich selbst zu denken war für Diderot mehr als nur eine Methode: Es war ein philosophisches Erfordernis und eine Garantie gegen den Dogmatismus.“ Durch diesen Dreisprung nahm er die aufklärerische Dialektik vorweg.

Er war ein scharfer Kritiker jeder Form von religiösem Fanatismus – und wurde dafür ins Gefängnis geworfen: in Vincennes, am Stadtrand von Paris, im Sommer 1749. Dort besuchte ihn sein Freund Rousseau – und hatte auf dem Fußmarsch seine „Erleuchtung“: Zurückweisung der gesellschaftlichen Konventionen und Wiedereroberung der natürlichen Lebensquellen. Diderot war damals 36 Jahre alt und hatte nach seinem Erstlingswerk, „Philosophische Gedanken“ (1746), einem Aufruf zur Vernunftreligion, den „Brief über die Blinden“ veröffentlicht, ein erkenntnistheoretisches Traktat, das auch ein viel beachtetes Kapitel über Atheismus enthielt. Diese religionskritischen Schriften trugen ihm die Verfolgung der Zensur und einen königlichen Haftbefehl („lettre de cachet“) ein. Er musste alles widerrufen, was er bisher geschrieben hatte, und schwören, sich nie wieder abfällig über Religion und Moral zu äußern. Diese Demütigung hinterließ traumatische Spuren von Ängstlichkeit und Vorsicht in ihm und bewog ihn später, seine literarischen Hauptwerke ungedruckt für die Nachwelt zu hinterlassen.

Er wurde nach dreieinhalb Monaten Festungshaft nur freigesetzt, weil er inzwischen unentbehrlich geworden war. Denn kurz vor seiner Verhaftung hatte er zusammen mit dem Mathematiker d'Alembert von einem Verlegerkonsortium unter Führung des Pariser Buchhändlers und Hofdruckers Le Breton den Auftrag erhalten, ein Universallexikon des Engländers Ephraim Chambers zu übersetzen. Daraus entwickelte Diderot den kühnen Plan, unter Mitarbeit der erlauchtesten Köpfe seiner Zeit ein Kompendium des Wissens herauszugeben, das in seiner Vollständigkeit und erkenntniskritischen Fortschrittlichkeit bisher unerreicht sein sollte.

Die „Enzyklopädie oder das allumfassende Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke“ sollte Diderots Lebenswerk und ein europaweit anerkanntes Pantheon alles Wissenswerten in insgesamt 35 Bänden werden. 26 Jahre hat er als Herausgeber und redaktioneller Bearbeiter die Beiträge von über 170 Mitarbeitern gesammelt – darunter so illustre Namen wie Condillac, Condorcet, Montesquieu, Rousseau, Voltaire. Er hat selbst viele wesentliche Artikel beigesteuert, sich mannhaft gegen Anfeindungen, Zensur, Publikationsverbote zur Wehr gesetzt und letztlich alle Gegner des Projekts nachhaltig aus dem Feld geschlagen.

Für Diderot war diese Herkulesarbeit gleichsam die letzte Chance, sich in seinen hohen Dreißigern von einem ungesicherten Bohemeleben zu lösen, um sich ganz einer aufsehenerregenden editorischen Aufgabe zu widmen, die ihm und seiner Familie dauerhaft die Existenz sichern sollte. Diese war zuvor durch ständige Geldsorgen und den reichlich unsteten Lebensstil des Haushaltsvorstands erheblich gefährdet gewesen.

Die Großstadt mit ihren Künstlerzirkeln, Cafés und Theatern war für den Zugereisten aus der Provinz vorübergehend eine Verführung geworden. Mit 15 Jahren war der vor 300 Jahren, am 5.Oktober1713, geborene Sohn eines wohlhabenden Messerschmieds aus Langres in der Champagne nach Paris gekommen, um bei den Jesuiten Theologie zu studieren. Diesem Wunsch des Vaters entflohder designierte Abbé indes bald zu den schönen Künsten, worauf der gestrenge Vater ihn für die Jurisprudenz bestimmte. Zwei Jahre hielt es Denis in der Kanzlei eines Anwalts aus, dann versuchte er, sich als Gelegenheitsschreiber und Übersetzer durchzuschlagen. Als er mit 30 Jahren gegen den Willen der Eltern eine Weißnähertochter heiraten wollte, ließ ihn der Vater in einem Kloster festhalten. Die Trauung musste heimlich stattfinden und bescherte Diderot in der Folge zwar mehrere Kinder, aber kein dauerhaftes Eheglück.

Mit seiner ganzen Kraft widmete er sich ab 1750 dem Aufbau des Lexikons. Vonseiten des Hofes und der Kirche wurden die Enzyklopädisten von Anfang an dem Generalverdacht unterworfen, eine Geheimgesellschaft zu sein, die den Sturz der Monarchie betreibe. Als der Mitstreiter d'Alembert, durch die ständigen staatlichen Interventionen mutlos geworden, das Unternehmen 1758 entnervt verlässt, schreibt der Einzelkämpfer Diderot an Voltaire: „Was also tun? Was sich für mutige Menschen geziemt: unsere Feinde verachten, ihnen zusetzen und, wie wir es bereits getan haben, uns die Dummheit unserer Zensoren zunutze machen.“ Es ist ein bezeichnendes Aperçu der Historie, dass schließlich die königliche Mätresse, Madame Pompadour, sich zur Schirmherrin der Enzyklopädisten aufschwang und auch der Chefzensor Malesherbes insgeheim mit den Aufklärern sympathisierte.

Die „Enzyklopädie“ erschien von 1751 bis 1765 in 17 Foliobänden und elf Bänden mit Kupferstichtafeln; 1776/77 kamen noch fünf Supplementbände hinzu. „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss“, schrieb Diderot und benannte damit das Ordnungsprinzip des Werks. Es steht im Widerspruch zum Maß der Theologen, das den Mittelpunkt Gott vorbehält. Alles darin zielte auf die Besserung der gesellschaftlichen Zustände ab.

Selbstbefreiung des Bürgers als Ziel

Die Summa des Wissens sollte der Selbstbefreiung des Bürgers zur Mündigkeit dienen. Die Edition erregte europaweit Aufsehen und wurde vor allem an den Fürstenhöfen diskutiert. Dem Herausgeber trug sie eine Einladung der Zarin KatharinaII., seiner Hauptmäzenatin, nach St. Petersburg ein, vonder Diderot mit derselben Skepsis gegenüber dem aufgeklärten Absolutismus heimkehrte, mit der er aufgebrochen war.

Weitgehend verborgen hielt sich zu Lebzeiten der literarische Neuerer Diderot: Seine Entdeckung bleibt ein Verdienst der deutschen Klassiker. So brachte Lessing schon 1760 mit seiner gleichnamigen Übersetzung „Das Theater des Herrn Diderot“ unter das deutschsprachige Publikum und ließ sich von Diderots Ansichten zur Theaterreform maßgeblich beeinflussen: Die Konflikte des Bürgertums wurden bühnenwirksam. Goethe und Schiller wiederum waren von dem genialen Erzähler Diderot fasziniert. Eine Abschrift des Dialogromans „Rameaus Neffe“ hatte Goethe über Umwege von seinem Dramatikerkollegen Friedrich Maximilian Klinger aus St. Petersburg erhalten.

An Schiller schrieb Goethe 1805 von einer„Bombe“, die „gerade in der Mitte der französischen Literatur platzt“, und machte sich sogleich an die Übersetzung. Die Bombe: das war die Konfrontation der idealistischen Philosophie mit einer unverblümt materialistischen Weltauffassung. Im Wortduell zwischen einem verhinderten Künstler und einem sein festumrissenes Ich verteidigenden Denker, zwischen dem Lebensverschwender und dem Bedenkenträger brechen die Dissonanzen der Moderne schrill auf: „Rameaus Neffe“ ist mehr als ein Künstlerroman über Glück und Verhängnis des schöpferischen Ingeniums. Es ist das Drama der Zerrissenheit des begabten Menschen unter der Herrschaft des Konsumismus. Der Autor war darin nicht ohne innere Erschütterung in die Abgründe der eigenen Bohemezeit zurückgekehrt.

Auf Diderot war Goethe schon früh durch dessen Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“ aufmerksam geworden, den er 1780 als „eine sehr köstliche und große Mahlzeit in sechs ununterbrochenen Stunden verschlungen“ habe. Hier zeigt sich der Dialogliebhaber und Rabulist Diderot von seiner geistvollsten Seite. In der fortwährend von Erzählexkursen unterbrochenen Streitrede des Dieners Jakob mit seinem Herrn geht es um das hochaktuelle Thema von Vorbestimmung oder Freiheit. „Leiten wir das Geschick, oder leitet das Geschick uns?“, ist die Frage, die den plebejischen Diener umtreibt. Der Leser wird untergehakt und in die Schreibwerkstatt gezerrt: „Aber wenn du mich unterbrichst, Leser, was soll dann aus Jakobs Geschichte werden?“ Gemeinsam mit dem Plebejer Jakob und seinem Herrn begibt er sich auf eine pikareske Romanreise, bei der die Suche nach der Wahrheit wie bei „Warten auf Godot“ stets in die Eingangsfrage mündet: „Weiß man je, wohin man geht?“ Diderots literarische Werke, darunter auch der Roman „Die Nonne“, lesen sich heute so frisch, als seien sie gerade gestern geschrieben worden.

Diderot starb 1784 in Paris. Wo wären wir ohne ihn? Bei Genies ist dies die legitime Frage. Zwischen Voltaire und Rousseau, zwischen dem Utopisten einer aufgeklärten Alleinherrschaft eines Einzelnen und dem Utopisten einer Alleinherrschaft des Volkes stand Diderot als der „Pragmatiker“ der Aufklärung: emsig, tatkräftig, in seinem Denken und Handeln stets der Vielschichtigkeit der Realität mit ihren Widersprüchen dialektisch-duldsam Rechnung tragend. Wir wären ohne Diderot weniger frei, als wir durch ihn wurden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2013)

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