Ein Tag im Leben von Adam und Eva

Die Geschichte der Gattung Homo vor 2,5 Millionen Jahren bis in die Gegenwart ist nicht unterhaltsam. Die Lektüre des Parforceritts von Yuval Noah Harari durch die Zeiten aber ist sehr vergnüglich, gelingt es dem Historiker doch, dem Leser die Augen zu öffnen für die „Kultur“ des Menschen.

Universalgeschichtlich gebildete Leser jenseits der 60 haben ihren Arnold J. Toynbee intus, auch den „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler und die einschlägigen Werke von Egon Friedell. Warum sollten sie einen Bestseller aus Israel studieren, der noch einmal mit Adam und Eva beginnt? Da „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari nicht nur den neuesten Stand der historischen Forschung flüssig erzählt, sondern darüber hinaus einem die Augen zu öffnen vermag, was sein Geld wert ist.

„Sämtliche Affenarten haben großes Interesse an sozialen Informationen, aber keine kann so gut tratschen wie wir“, schreibt Harari und fügt hinzu, dass nur der Homo sapiens mit seiner vor 70.000 Jahren erworbenen Sprachkompetenz befähigt war, Geschichten über Zusammenhänge zu erfinden, die ausschließlich in den Köpfen existieren – in Legenden, Mythen, Märchen für die freie Zeit nach der Nahrungsbeschaffung; Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gebe es nicht dinglich, so Harari, sie existieren allein in unseren kollektiven Vorstellungswelten. Mit ihnen beherrschen wir die Welt.

Das lernen die Studenten der Hebrew University of Jerusalem, an der Harari unterrichtet, und niemand wirft Steine auf den Professor, Jahrgang 1976. Vier Semester Mathematik sind Pflichtfach auch für Sozial- und Geisteswissenschaften. Da staunt der (ältere) Laie und möchte am liebsten noch einmal von vorn anfangen dürfen, mit Harari als Lehrer.
Er hat den Anmerkungsteil seines Buches erfreulich schlank gehalten, ohne den üblichen Friedhof von Verweisen auf die verwendete Fachliteratur. Dokumentiert werden in der Regel nur die neuesten Arbeiten in einem Feld, das von den ersten Schritten der Gattung Homo vor 2,5 Millionen Jahren bis in die Gegenwart reicht. Wie genau Harari sein kann, wenn er es für nötig hält, zeigt Anmerkung 65. Sie nennt den Fundort eines Zitats aus dem Jahr 1942, in dem von der „Ausmerze“ lebensuntüchtigen Lebens die Rede ist, wie gefordert von den Autoren eines deutschen Biologielehrbuchs für Mittelschüler.

Referiert werden die Rassentheorien der Nazis im Kapitel „Die Anbetung des Menschen“, durchgängig im ruhigen Ton eines Lehrers, der mit Sarkasmen sparsam umgeht, auch wenn die Beschäftigung mit der Geschichte der Menschheit geeignet erscheint, die Mundwinkel nach unten zu ziehen. Die Anbetung des Menschen beschäftigt sich mit der Moderne, die sich laut Harari durch beispiellosen Missionseifer und blutige Religionskriege hervorgetan hat. In einer einzigen Nacht im August 1572 wurden mehr Christen getötet als in allen Christenverfolgungen des römischen Imperiums, bemerkt Yuval Noah Harari.

Religionen, die sich gottlos geben


Mit den diversen Ismen der letzten Jahrhunderte geht er nicht sehr respektvoll um. Kapitalismus, Nationalismus, Nationalsozialismus, Liberalismus, Kommunismus, Humanismus – Harari nennt diese Kopfgeburten in aller Ruhe „Religionen“, obwohl sie sich gottlos geben. Eine Religion, so Harari, sei ein System menschlicher Werte und Normen, das sich auf den Glauben an eine übermenschliche Ordnung beziehe. Damit landen Bankinstitute und Konzentrationslager zusammen mit dem Monotheismus in einem Sack, und dieser ist voller Schlangen, trotz Verkündung der Menschenrechte.
Nach dieser Kneipp-Kur für die Anbetung „des Menschen“ folgt noch ein Memento im besten Harari-Sound: Im Innersten des Menschen haben die Biowissenschaften keine Seele gefunden, sondern nur Organe. Unser Verhalten werde nicht vom freien Willen gestaltet, sondern von Hormonen, Genen und Synapsen, wie sie auch Schimpansen, Wölfe und Ameisen haben. Unser Rechtsstaat und unsere Demokratie kehren diese unbequemen Wahrheiten gern unter den Teppich. Wie lange wird es dauern, bis wir die Mauer zwischen der biologischen und der juristischen Fakultät einreißen?
Dies fragt Harari. Er hat sich in den ersten acht Kapiteln seiner Menschwerdungsgeschichte unter anderem mit dem Talent des Sapiens beschäftigt, Pflanzen und Tiere auszumerzen. Dabei bekommt das idyllische Bild von den friedlichen Jägern und Sammlerinnen, die in Eintracht mit der Natur gelebt haben, einige Kratzer.

Nach dem dritten Kapitel („Ein Tag im Leben von Adam und Eva“), das dazu ermutigt, unser Hirn als steinzeitlich programmiert aufzufassen, wirft Harari einen Blick auf die Verheerungen in der Fauna Australiens nach der Ankunft der ersten Sapiens-Exemplare vor geschätzten 45.000 Jahren auf jenem Erdteil. Von 24 dortigen Großtierarten waren innerhalb weniger Jahrtausende 23 ausgemerzt. Der Sapiens befand sich auf dem Weg zur Spitze der Nahrungskette. Harari: „Wir haben die zweifelhafte Ehre, die mordlustigste Art in der Geschichte des Lebens zu sein.“

Eine bittere Pille für das Selbstbewusstsein des Sapiens, wie Harari ihn durchgehend nennt, des „Wissenden“ im gängigen Menschenbild. Es kommt noch dicker. In den Kapiteln fünf bis acht widmet sich Harari dem „größten Betrug in der Geschichte“, der Ankunft des bäuerlichen Universums, wie Pasolini es genannt hat.
Die Landwirtschaft, erzählt Harari, läutete keine Ära des angenehmen Lebens ein, ganz im Gegenteil. Der Alltag der Bauern war härter und weniger befriedigend als der ihrer Vorfahren. Der Sapiens wurde von der Evolution geschaffen, auf Bäume zu klettern und hinter Gazellen herzujagen, nicht Steine vom Boden aufzulesen und Wassereimer zu schleppen. Rücken- und Gelenksschmerzen waren der Preis für die Arbeit auf den Feldern. Eine Handvoll Pflanzenarten wie Weizen, Reis und Kartoffeln domestizierten den Sapiens, nicht umgekehrt. Er wurde sesshaft und damit gewalttätiger als früher, weil Besitz zu verteidigen war. In der Steinzeit ernährte die Oase von Jericho hundert Menschen, hernach tausend kränkliche und hungrige Bauern. Wenn eine Art auf viele DNA-Moleküle verweisen kann, ist sie ein Erfolg und floriert. So gesehen sind tausend Exemplare besser als hundert. Der Sapiens lief in eine Falle, findet Harari.
In Jericho wurde ein alter Altar aus Stein ausgegraben, mit einer Blutrinne. Das Opferbringen, eine aus heutiger Sicht besonders befremdliche Episode, blieb gemeinsam mit dem Jagen und dem Kriegführen eine Männersache. Das ist längst bekannt, spätestens seit dem Erscheinen des Klassikers „Homo Necans“ von Walter Burkert. Im Kapitel „Die Geschichte ist nicht gerecht“ diskutiert Harari den Stand der Debatte um die Frage, warum „in jeder, aber auch jeder Gesellschaft Männer gegenüber Frauen bevorzugt werden“. Wenn das Patriarchat derart universell ist, folgert Harari, kann es nicht zufällig entstanden sein. Warum benötigt der Sapiens Hierarchien und die damit verbundene Engstirnigkeit? Keine Antwort, zumindest vorderhand, laut Harari. Er darf es sich leisten, Unwissenheit einzugestehen.

Schärfer wird der Ton, wenn die Unwissenheit der eigenen Zunft vor die Rampe gebeten wird, im radikalsten Kapitel unter dem Titel „Das Erfolgsgeheimnis“. Was passiert morgen? Das wisse niemand, stellt Harari fest. Und weiter: Die Geschichte lasse sich nicht deterministisch erklären oder vorhersehen, weil sie chaotisch verlaufe. Revolutionen seien definitionsgemäß nicht vorhersehbar. Eine Revolution, die sich vorhersehen lasse, breche erst gar nicht aus. Damit wird weitergeführt, was Theodor Lessing 1919 zu Papier gebracht hat: „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.“

Ferner: Es genüge zu verstehen, schließt Harari, dass das Wohl der Menschen nicht zu den Leitprinzipien der Geschichte gehöre und der Sapiens nicht automatisch in der besten aller Welten lebe. Damit verhüllt Leibniz sein Haupt, und Harari kann sich der nächsten Revolution widmen, der wissenschaftlichen ab dem Jahr 1500.
Da er selbst in ihr steckt, betrachtet er sie nicht nur als Segen für die Menschheit und auch für das Tierleben. Wenn nur ein Bruchteil der Behauptungen von Tierschützern stimmten, rügt Harari, dann sei die moderne industrielle Tierhaltung das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Im Wärmestrom der Kunst


Im vorletzten Kapitel seiner Universalgeschichte muss Harari somit eine peinliche Lücke in der Weltbetrachtung der Historiker konstatieren. Sie haben sich nie gefragt, was der Gang durch die Vergangenheit für den Zuwachs an Glück in der Schöpfung bedeutet. Statt sich dem Wärmestrom dessen zuzuwenden, was Malerei, Musik, Tanz, darstellende und textile Kunstfertigkeit, Schauspielerei und Priesterdienst als Mehrwert in die Welt gebracht haben, begnügt sich Harari mit einer Inspektion dessen, was die sogenannte Glücksforschung der vergangenen Jahrzehnte ans Tageslicht gefördert hat. Selbstverständlich fällt das Ergebnis niederschmetternd aus. Jeder Sinn, den wir unserem Leben geben, ist reine Illusion.

Dagegen spricht ein weiterer kulturgeschichtlicher Klassiker, der „Homo Ludens“ von Johan Huizinga. Wer ihn liest, wozu hier dringend geraten wird, kann sich von den Schocktherapien Hararis halbwegs erholen.
Das gilt besonders für den Ausblick Hararis in die Zukunft, unter dem Titel „Das Ende des Homo sapiens“. Es steht für ihn unter dem Motto des „intelligenten Designs“, nicht im Sinn Kardinal Schönborns, sondern mit dem Blick auf gentechnisch veränderbare Pflanzen und Bakterien, auf Computerviren, die sich programmgemäß millionenfach vermehren, auf künstliche Arme, die sich durch Gedankenübertragung steuern lassen. Futuristische Träume, gesteht Harari, aber sie könnten in absehbarer Zeit Wirklichkeit werden und Monstren erzeugen, die zwar nicht wissen, wohin die Reise gehen soll, aber unbedingt früher dort sein wollen.

Solch ungemütlichen Perspektiven entgeht Harari durch kurzes Verweilen in der Gesellschaft Buddhas, von dem er die Aufforderung zur Selbsterkenntnis übernimmt: Wenn wir sie beherzigten, würde unser Geist ruhig, klar und zufrieden und der allenfalls vorhandene Leberkrebs zum flüchtigen Gekräusel auf dem Ozean des Nirwana.
Harari ist deswegen nicht in einem Aschram untergetaucht, sondern wurde kürzlich mit 25 weiteren Nachwuchstalenten in die neu gegründete israelische Akademie der Wissenschaften gewählt. Viel Glück! ■

Yuval Noah Harari

Eine kurze Geschichte der Menschheit

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. 520S., geb., €25,70 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2013)

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