Erhebe dich, Amerika!

James Gustave Speth träumt von einem neuen Amerika. Einem, das den „Klauen der Finanzwelt“ entrissen wurde.

Es ist eine der besseren Szenen in der sonst enttäuschenden US-TV-Serie „The Newsroom“ von Aaron Sorkin, dem politischsten Drehbuchschreiber Hollywoods und Schöpfer der herausragenden Politikserie „The West Wing“. Warum, will eine Studentin vom Protagonisten bei einer Podiumsdiskussion wissen, sei Amerika das großartigste Land der Welt? Solche kindlich-naiven Fragen sind in den USA durchaus üblich, ebenso wie die Lobpreisungen des Antwortenden. In diesem Fall aber funktioniert der unreflektierte Nationalismus nicht.

„Amerika ist nicht das großartigste Land der Welt“, antwortet der befragte TV-Moderator. „Es ist Siebter beim Lesen und Schreiben, 27. in Mathematik, 22. bei der Wissenschaft, 49. bei der Lebenserwartung, Dritter beim Haushaltseinkommen, Vierter bei der Zahl der Exporte. Nein“, bekräftigt der verärgerte Moderator, „Amerika ist nicht das großartigste Land der Welt.“

Offenbar hat Aaron Sorkin das jüngste Buch von James Gustave Speth gelesen, der in „Der Wandel ist machbar: Manifest für ein neues Amerika“ genau diese Statistik auflistet. Speth bietet noch mehr: Die Vereinigten Staaten haben die höchste Armutsquote, die größte Einkommensungleichheit, die zweithöchste Schulabbrecherquote. Nur in drei Punkten sind die USA weltweit führend: bei der Höhe der Militärausgaben, der Zahl der Häftlinge und bei Tötungsdelikten.

Etwa ist faul im Staate USA. Einst dominierten die Vereinigten Staaten diese Welt – wirtschaftlich, militärisch, kulturell. Ihre Demokratie war ein Leuchtturm und ihre bürgerlichen Freiheiten ein Maßstab. Heute? Grund- und Bürgerrechte scheint man nach dem 11. September 2001 abgeschafft zu haben, ein allmächtiger Staat liest und hört unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung überall mit, er führt geheime Prozesse mit geheimen Beweisen und sperrt Menschen auf einen Verdacht hin jahrelang ein (Guantánamo Bay). Wirtschaftlich holt schon China zum Überholen an, während im Zentrum der Krise die Finanzmärkte wieder florieren, nicht aber die Volkswirtschaft. Unangefochten geblieben ist nur die militärische Macht – vorerst zumindest.

„Für Pessimismus ist es eigentlich zu spät, denn dafür stehen die Dinge schon zu schlecht“, zitiert Speth den US-Geschäftsmann Dee Hock zum Zustand der USA. Wer aber soll die Probleme lösen, wenn sich Kongress und Weißes Haus, wie jetzt, nicht einmal auf ein Budget einigen können und das ganze Land – bis hin zu Nationalparks und Museen – zugesperrt werden muss? Nein, die Politik hat ihre Problemlösungskompetenz schon vor vielen Jahren verloren.

Speth hat das erkannt. Geradezu penibel analysiert er die grassierende Armut in dem Land des Überflusses, die wirtschaftliche Unsicherheit, die die Menschen plagt, das Versagen von Gesundheits- und Bildungswesen, den verschwenderischen Umgang mit den Ressourcen. All das ist nicht neu und wurde schon von Dutzenden Autoren diagnostiziert. Speth aber, der einst als Berater des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter arbeitete, hat eine Lösung parat, eben ein Manifest für ein neues Amerika. Sein Ziel seien die USA, die wieder eine der führenden Nationen bei der Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit, bei der Verbreitung von Frieden und bei der Erhaltung der Umwelt seien. „Wir werden“, schreibt Speth zuversichtlich, „unsere Demokratie aus den Klauen der Finanzwelt zurückerobern.“

Der Satz lässt schon vermuten, wo der Autor alles Böse vermutet. Entsprechend sind seine Lösungsansätze, denen er zwei Drittel seines Buches widmet. Der Systemwandel, den James Gustave Speth fordert, beginnt beim Abschied vom Traum des steten Wirtschaftswachstums. Es genügt ihm freilich nicht, das ohnehin kaum noch stattfindende Wachstum zu manifestieren. Er fordert von der Politik zusätzlich Maßnahmen, damit sich das wirtschaftliche Wachstum auf jeden Fall verlangsamt.

Ähnlich einschneidende Änderungen solles unter anderem beim Markt geben (durch Eingriffe der Politik), bei Unternehmen (Stakeholder vor Shareholder), beim Finanz-und Geldwesen (es soll „ein öffentliches Gut mit gesamtgesellschaftlichem Nutzen sein“), bei sozialen Verhältnissen (Festsetzung einer Einkommensunter- und -obergrenze im Verhältnis eins zu 100) und auch beim Konsum (Zusatzsteuer auf teure Konsumgüter und Aufklärung der Bürger über verantwortungsbewusstes Einkaufen).

Manche Ideen sind sympathisch naiv. Etwa die, vor Wahlen einen arbeitsfreien Tag einzuführen, an dem die Menschen in Gruppen „von 15 bis 500 Personen“ die Wahlkampfthemen diskutieren sollen. Man muss kein Zyniker sein, um zu wissen, dass es bei Wahlen schon lange nicht mehr um Inhalte geht – und dass solche Diskussionsgruppen in purem Chaos enden würden.

Man würde Speth unrecht tun, wenn man sein Buch in Anlehnung an seinen Titel als kommunistisches Manifest zusammenfasste. Er argumentiert über weite Strecken treffend und logisch. Trotzdem liegt der Vergleich nahe, etwa wenn er über die „Bewegung“ schreibt – sein Traum von einem Zusammenschluss von linksliberalen Gruppierungen und Umweltschützern mit einem Ziel: „Die einzige uns verbleibende Option ist der zivile Ungehorsam, was einen harten, langen und schwierigen Kampf bedeuten kann.“ Und einige Seiten weiter: „Wenn wir bereit sind, zu kämpfen und alles aufs Spiel zu setzen, erwartet uns ein neues Amerika.“

Vielleicht sollte man es doch noch einmal mit der Politik versuchen. ■

James Gustave Speth

Der Wandel ist machbar

Manifest für ein neues Amerika. Aus dem Amerikanischen von Sandra H. Lustig und Ina Goertz. 250S., brosch., €20,50 (Oekom Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2013)

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