Manche Leoparden saufen Blut

Moacyr Scliar baut aus einem Kafka-Satz einen feinen Roman.

Im Roman „Kafkas Leoparden“ von Moacyr Scliar kommt ein Stück Papier aus der Ukraine nach Brasilien und befreit nach Jahrzehnten einen Studenten aus den Klauen von Folterern. Wenn Franz Kafka nicht gerade an größeren literarischen Formen arbeitete, notierte er sich auch kleine Gedankenwölkchen – Aphorismen wie: „Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonien.“ Diesen Satz kann man verschieden interpretieren, etwa als Bild vom Entstehen der Traditionen – der brasilianische Autor Moacyr Scliar (1937 bis 2011) jedenfalls baute rund um ihn einen wunderhübschen kleinen Roman.

Erzählt wird die Geschichte des von Bütteln der brasilianischen Militärdiktatur verhafteten und gefolterten Jaime Kantarovich, einem Linksaktivisten, und seines Großonkels, dem Schneider Benjamin. Der war in einem jüdischen Dorf in der Ukraine aufgewachsen und – wie der Held in Scliars Roman „Die Ein-Mann-Armee“ – schon als Junge ein Genosse Quijote, ein romantischer Rebell, der den von kommunistischen Ideen inspirierten Freund Jossi verehrte. Als Jossi 1916 erkrankt, beauftragt er Benjamin mit einem Geheimauftrag: Er solle sich im Prager Hotel Terminus einmieten und für Trotzki von einem Autor einen Text abholen.

Dazu erhält Benjamin weitere Anweisungen, Geld und Papiere. Mit anschwellendem Stolz begibt sich Benjamin mitten im Weltkrieg auf die Reise und erreicht sein Ziel, obwohl er unterwegs alle Unterlagen verliert. In Prag irrt der Junge durch die Stadt wie Karl Rossmann – Held von Kafkas Roman „Amerika“ – durch die USA, lernt seltsame Menschen kennen und trifft dann zufällig auf einen hageren Schreiber, der einer Zeitschrift einen Text versprochen hatte. Auf Benjamins Bitte übergibt ihm Kafka den Text – er handelt von Leoparden im Tempel.

Genosse Quijote rettet ein Leben

Benjamin wird daraus nicht klug, auch ein Priester im Dom kann ihm nicht weiterhelfen, selbst eine junge Frau bringt ihm keine Rettung. Wohl ein revolutionärer Kassiber. Trotzki wird sich schon auskennen! Heimgekehrt erfährt er von Jossis Tod. Nach der Revolution wandert die Familie nach Brasilien aus. Benjamin findet dort Arbeit bei einem Schneider und sinnt immer wieder über den Text nach, den er aus Prag mitgebracht hat. Sein Autor wird nach 1945 bekannt, ja berühmt; Benjamin weiß (noch) nicht, dass er einen Schatz besitzt, für den einige viel zahlen würden – ein Autoskript Kafkas!

In Jaime, einem jungen Hitzkopf, der bei jedem Protest gegen die Militärdiktatur dabei ist, findet sich der alternde Benjamin wieder, diesem Großneffen gilt all seine Liebe. Um ihm das Studium zu ermöglichen, schenkt er ihm den Text mit Kafkas Unterschrift. Doch gerade damit wird Jaime verhaftet, seine Verhörbullen vermuten eine verschlüsselte Botschaft, deren Inhalt sie aus dem Jungen herausprügeln wollen. Doch Benjamin hat eine Idee, wie er den Lieblingsneffen aus den Klauen der Folterer befreien kann.

Der Arzt und Autor Moacyr Scliar verflicht in diesem Roman aus dem Jahr 2000 Elemente seiner eigenen Vita, bittersüße Skizzen jugendlicher Revolutionsromantik samt Scheitern dieser Utopien, Sozial- und Staatskritik sowie gelungene Improvisationen über Kafka-Tropen zu einer ehrfürchtigen und humorvollen Annäherung an den Prager Autor. ■

Moacyr Scliar

Kafkas Leoparden

Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. 160S., Hln., €19,40 (Lilienfeld Verlag, Düsseldorf)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2013)

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