Dinge, die ein Sohn seiner Mutter wünscht

Ganz nah an der Autobiografie: Lena Gorelik schreibt schnörkellos über eine junge Mutter, die aus Überforderung mit dem Alltag zur „Listensammlerin“ wird.

Familiengeheimnisse werden vielleicht deshalb so gut gehütet, weil sie eine zerstörende Kraft besitzen: Sie können die Bande der Familie zerreißen. Aus Nähe wird Distanz, Stabiles wird porös, Vertrautheit verschwindet. In ihrem Roman „Die Listensammlerin“ macht Lena Gorelik das Geheimnis einer deutsch-russischen Familie zum Mittelpunkt ihrer Erzählung.

In „Meine weißen Nächte“ kehrt die Ich-Erzählerin mit ihrem Freund zurück in ihre Geburtsstadt St. Petersburg, aus der sie zu Beginn der 1990er-Jahre mit ihrer Familie nach Deutschland auswanderte. Die Goreliks kamen als jüdische Einwanderer, und die spezifisch jüdische Migrationserfahrung ist es, aus der Gorelik ihren Stoff schöpft. „Hochzeit in Jerusalem“ ist eine vordergründig unterhaltsame Chronik der verpatzten Beziehung von Anna und Julian, aber ebenso sehr ein Buch darüber, was es bedeutet, als Jüdin in Deutschland zu leben. Goreliks vorletztes Buch, „Lieber Mischa“, könnte manals autobiografisch beeinflussten Lebensratgeber für ihren Sohn bezeichnen. „Lieber Mischa, es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude“, steht da. Und ein paar Seiten weiter: „Lieber kleiner Mischa. Du bist ein Jude. Etwas Besseres hättest Du nicht werden können.“

Man spürt es: Lena Gorelik ist eine junge Schriftstellerin, bei der die Lust an der Selbstbeschau gepaart ist mit einem wohltuenden Hang zur (Selbst-)Ironie. Gorelik kennt die Stärken und die Schwächen ihrer Protagonisten erstaunlich gut. In „Die Listensammlerin“ zeigt sie nun, dass sie auch Romane mit komplexen Handlungssträngen versiert komponieren kann, in Tonalität und Struktur eine Weiterentwicklung. Die Autorin hat eine schier unglaubliche Geschichte aufgeschrieben, selbstbewusst und mit Verve. Geblieben ist ihr eindringlicher Blick auf Stärken und Schwächen ihrer Protagonisten.

Wir verfolgen Sofias Schicksal, einer in Deutschland aufgewachsenen Russin, Jungmutter und Schriftstellerin. Ihre Mutter ist nach Deutschland eingewandert, geholt von Frank, einem Wissenschaftler, der Sofias Stiefvater ist. Eines Tages findet Sofia in den Sachen ihrer russischen Großmutter, die mit nach Deutschland kam, eine Schatulle mit Listen. Es gibt eine „Liste von Männern mit schönen Händen”; eine Liste von Büchern, die man lesen soll; Dinge, die ein Sohn seiner Mutter wünscht; Aufzählungen von den sonderbaren Erfindungen, die es in Amerika gibt. Wer der Autor dieser Listen ist, ist zunächst unklar. Doch Sofia ahnt, dass es jemand aus der Familie sein muss. Sie selbst hat zeit ihres Lebens Listen geführt – sehr zum Missfallen ihrer Mutter. Sie hat auf diese Weise versucht, ihr Leben zu ordnen. Kategorisieren, einordnen, sich vergegenwärtigen – das ist ihr Tick. Denn Sofia ist überfordert mit ihrem Alltag: Ihr Kind Anna etwa muss sich mehrerer lebensbedrohlicher Operationen am Herzen unterziehen.

Sofia tastet sich allmählich an das Geheimnis heran: Ihr Onkel Grischa, den sie nie kennengelernt hat, hat die Listen erstellt. In wechselnden Ausschnitten aus Sofias wenig glamourösem Alltag als überlastete Jungmutter erfahren wir Details aus Grischas Leben. Er ist der Bruder von Sofias Mutter und betätigte sich in der Sowjetunion als Dissident. Bei einer gefährlichen Aktion, bei der er die Unmenschlichkeit des Sowjetsystems bloßstellen will, wird er verhaftet, wie Sofias Vater. Von diesem hieß es bisher, er sei in jungen Jahren bei einem Autounfall gestorben.

In dem Roman steckt aber noch mehr als die schmerzhafte Transformation einer Legende zu einer wahren Geschichte. Gorelik thematisiert den – platt gesagt – Lauf des Lebens: die Generationenfolge, das Annehmen des Lebens, wie es ist, das Verabschieden von den Alten und die Trauer um die Toten. Eindringlich schildert sie eine angespannte Mutter-Tochter-Beziehung, ja sogar Sofias Schreibhemmung hat Platz. Dann liegt die Großmutter im Sterben, und Sofia muss ihre Tochter dem Arzt zur bisher schwersten Operation übergeben. Das alles klingt herzergreifend, aber ohne übertrieben zu wirken. Vielleicht, weil Lena Gorelik schnörkellos schreibt und trockenen Humor hat.

Schließlich wird auch das Familiengeheimnis gelüftet – etwas, was den Beteiligten viel abverlangt. Hätte Sofia nicht nachbohren sollen? So oder so, befindet die pragmatische Gorelik, müssen wir mit unserer Geschichte leben: Verschweigen hat seinen Preis, Aussprechen ebenso. Ist das Familiengeheimnis allerdings erst einmal gelüftet, muss die ganze Story in neue Worte gefasst werden. Aus der Legende muss eine wahre Geschichte geschrieben werden. Und so erfährt man am Ende, womit alles begann und wie die Schreibhemmung überwunden wurde. ■

Lena Gorelik

Die Listensammlerin

Roman. 352 S., geb., €20,60

(Rowohlt Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.