Auf der Suche nach Orpheus' Geburtsort

Gefällig: Ilija Trojanow liefert Essays zu Bildern der Denkmalkultur aus Sowjetzeiten.

Es ist ein gewichtiger Hartkartonband mit langen SW-Fotostrecken aus dem ländlichen Bulgarien und neun Prosaminiaturen von Ilija Trojanow. Der Titel „Wo Orpheusbegraben liegt“ bezieht sich auf den vierten Abschnitt, in dem der Autor als „Denkmalvordenker“ ein Monument für die Gicht anregt, die in Völkerwanderungszeiten einen Heerführer plagte und damit einen Eroberungskrieg beendete. Für Orpheus-Denkmäler gäbe es neben dem thrakischen Heiligtum in Tatul viele Standortoptionen, denn etliche bulgarische Dörfer erheben den Anspruch, sein Geburtsort zu sein, und seinen Kopf sollen die Mänaden im Fluss Marica versenkt haben. Das eigentliche Thema aber ist die in jeder Hinsicht üppige Denkmalkultur aus Sowjetzeiten, die das Fotomaterial ausmacht.

Um Schicksale von Menschen wie Regionen vor dem Hintergrund der radikalen historischen Umbrüche geht es in allen Texten des Bandes. „Sippschaft“ erzählt von der Bedeutung der Verwandtschaftsbeziehungen, „Tepe“ und „Donaufischer“ von Umweltsünden und der Verlorenheit der davon überrollten Menschen. „Rückkehr“ ist die Geschichte einespolitischen Häftlings nach seiner Entlassung und zugleich eine Liebeserklärung an Trojanows Geburtsstadt Sofia. „Geständnis“ überschreibt eine Erzählung desbulgarischen Schriftstellers Elin Pelin – ein im Buch nicht abgebildetes Denkmal steht in der heute nach ihm benannten Stadt Nowoselzi – zum politischen Sündenfall der bulgarischen Kirche unter der Sowjetherrschaft.

Und wer vergibt der Welt?

„Warten“ spielt den Menschenhandel mit jungen Frauen in den Westen ein und ist am wenigsten überzeugend, „Dole“ die Lebenssituation der Roma, und „Totenfeier“ rollt beim Begräbnis eines 100-jährigen Mannes die Wechselfälle seines Lebens in NS-Faschismus, Kommunismus und Postkommunismus auf: Ökonomischen Höhenflügen folgten dreimal harte Bauchlandungen. „Gott möge ihm vergeben“, lautet der Trinkspruch eines Trauergastes. „Und die Welt? Wer vergibt der Welt?“, antwortet seine Witwe und spricht damit das letzte Wort des Buches.

Trojanows Skizzen fangen Lokalko-lorit und Mentalität der Bewohner ein. Einen ambivalenten Eindruck hinterlassen nur die Bilder des Berliner Fotografen Christian Muhrbeck. Zu eindeutig überwiegt die Suche nach Motiven, die den Clash zwischen (sehr) alt und (sehr) modern gefällig bis gruselig in ein Bild arrangieren. Natürlich treffen an den Rändern Europas, nicht anders als in den „Schwellenländern“, die Folgen der Globalisierung ungebremst auf gewachsene, in den „Zentren“ schon lange – je nach Perspektive – verlorene oder überwundene Traditionen der Alltagsorganisation.

Die Abmischung aus sozialer Exotik und bitterer Armut voller Lebensprovisorien mit eingestreuten technologischen Novitäten, ästhetisch weich ins Bild gerückt, mag gut verkäuflich sein, bedient aber in gleicher Weise Voyeurismus wie Sozialromantik. Auf der Homepage des Fotografen finden sich unter dem Link „Bulgarien in der EU“ durchaus auch andere, farbige Motive.

Dass Trojanow, Autor beredter Essays über die Fatalitäten der Globalisierung, die weltweit eine immer größere Zahl von Menschen einfach abschreibt, mit der versöhnlichen Tristesse der Fotos einverstanden war, ist etwas verwunderlich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)

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