Unter Gauklern

Deutscher Philosoph trifft in Wien auf einheimische Bürgerstochter. Ein Familienroman. Nun ja. Am Schluss jedoch ist der Leser von Dietmar Krugs „Mehr Freiheit“ bezaubert. Finden zuletzt doch verschiedene Erzählstränge als tiefer wirkende Wurzeln wundersam zueinander.

Dietmar Krug macht es seinen Lesern nicht leicht. Ein Familienroman also. Nun ja. Der Mann, der Vater dieser Familie namens Burkhard Van der Waiden, ist (wie der Autor) im Rheinland geboren, studierte dann in Wien Philosophie und scheint auch ungefähr gleich alt wie der Autor zu sein. Der Philosoph traf in Wien vor über 20Jahren seine spätere Frau Lisa, aus einer großbürgerlichen Familie stammend, selbstbewusst und kunstsinnig. Die etwas ausgeflippte Tochter, Sophie, ist Backgroundsängerin und will ihrer Popkarriere mittels einer Brustvergrößerung Vorschub leisten.

Der jüngere, pubertierende Sohn, Moritz, ist ein langhaariger Eigenbrötler, der sich mit seinem türkischen Freund Achmed vor allem „Star Trek“-Filme reinzieht (die karge gemeinsame Zeit von Vater und Sohn verbringen sie vor dem Bildschirm bei einer „Star Trek“-Folge) und sich schließlich in die merkwürdige neue Mitschülerin, Nina, ein Gothic-Girl, verliebt. Mit den klassenbewusstarroganten Schwiegereltern (Exprimar) und Burkhards Mutter, die nach einem Sturz geistig verwirrt und dement in einer deutschen psychiatrischen Klinik untergebracht wird, ist die Familie komplett.

Allen Figuren folgt der Erzähler sprachlich unauffällig und penibel in ihre charakterlichen Verästelungen, kleinste Gesten und bezeichnende Details mitunter eigenwillig registrierend, sodass jedes Mitglied dieser Familie nach und nach klare Gestalt annehmend vor dem Leser ersteht: treffend und nicht unbedingt außergewöhnlich. Eine Akademikerfamilie – man wohnt in bester Lage in Döbling in einer von einem namhaften Innenarchitekten eingerichteten Wohnung–, zwei fast neue Autos, Tanz- und Gesangsstunden für die Tochter, Nachhilfestunden für den Sohn, komfortable Reisen, volle Kleiderschränke voller Designerware.

Finanziell wird man dezent von Lisas Eltern unterstützt, da das Gehalt eines Privatdozenten doch relativ niedrig ist und die ebenfalls mit dem Geld ihrer Eltern neu eröffnete Galerie seiner Frau bisher ebenfalls nicht einmal die Miete eingebracht hat. Solcherart weiß der Leser um das Ach und Weh von ach so verständnisvollen, modernen, antiautoritären Eltern aus normal-verschrobenem Stall mit ihren offenbar anders als erhofft geratenden Sprösslingen Bescheid.

Nett dabei ist so manches Erlebnis der Mitglieder dieser Familie als unverkennbare Deutsche in Österreich. Da tut sich nicht nur der Sohn mit den komischen Kollegen schwer, die alles „urgeil“ oder „urfad“ finden, sondern auch dem Vater geht die Verwandlung der österreichischen Gesprächspartner in sprachfaule Gartenzwerge, kaum packt er sein sauberes Bundesdeutsch aus, auf die Nerven. Doch Wien ist für ihn eine „Wucht“, und er empfindet es im Vergleich zu Köln mit seinen Kriegswunden und der Baubarberei der Nachkriegsjahre als „eine leicht vergammelte Schatzkiste aus einer anderen Zeit“.

Hier kriegt der Philosoph Van der Waiden, der auch Biologie studiert hat, dann doch noch eine unverhoffte Chance, seine vielleicht letzte Möglichkeit, einen Lehrstuhl zu ergattern (dabei weiß er nicht, ob nicht auch hier sein nach wie vor einflussreicher Schwiegervater mitgemischt hat). Er bekommt den Auftrag, einen großen internationalen Bioethik-Kongress zu koordinieren. Eine bessere Referenz für höhere akademische Weihen würde er so bald nicht wieder bekommen, also muss er annehmen.

Der Kongress wird ein medialer Erfolg, besonders wegen eines Egoduells zwischen den beiden geisteswissenschaftlichen Stars, dem „Schamanen“ und dem „Prediger“ (für die Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas als Muster dienten). Die Oberflächlichkeit und Hohlheit des akademischen Betriebs stößt ihn jedoch zunehmend ab, immer wieder hinterfragt er sein Tun, seine Wirkungen auf andere, sich selbst.

Nicht zuletzt beim gemeinsamen Kiffen mit seinem alten Freund Matthias (aus demselben Dorf wie er stammend) wird ihm nun mit einem Mal klar, dass er zu Recht in seinem ganzen Leben noch nie etwas ernst genommen habe, was ihm seine Frau ja stets vorwirft, da man nämlich „nichts ernst nehmen kann, man kann nur eine Rolle spielen und hoffen, dass man sich mit ihr pausenlos identifiziert“. Er habe sich „noch nie mit einer Rolle länger als ein paar Stunden identifiziert, nicht als Ehemann, nicht als Vater, nicht als Hochschullehrer und schon gar nicht als Philosoph“. Und: „Ich bin ein einziger Schwindel, ein Scharlatan, der unter lauter Gauklern und Verrückten lebt.“

Es geht ihm da, so erinnert man sich als Leser, wie seinem Sohn, der auch einmal die plötzliche Einsicht gewinnt, „dass alles, wirklich alles auch ganz anders sein könnte“. Selbst wenn niemand sonst das wusste, er wusste es, zumindest in diesem Augenblick: „Es war das Glück der vagen Ahnung, dass das Leben womöglich mehr bereithielt als den lähmenden Kreisgang des Immergleichen.“ Diese Einsicht bestätigt ihm sein Vater, indem er ihm ein Buch eines Philosophenschenkt, der festhält, dass man nie wissen kann, ob man gerade träumt oder nicht.

Und wie sein Sohn sich die tägliche Straßenbahn zur Schule mitten in das Dickicht des Wienerwaldes fahrend vorstellt, macht sich Van der Waiden (seine Frau wähnt ihn bei einem Vortrag in den USA) mit seinem Affenfreund Matthias auf nach Borneo, um dort einen Orang-Utan aus dem heimischen Zoo in den Dschungel in die Freiheit zu entlassen, ihm jedenfalls (wie seine demente Mutter meint) „mehr Freiheit“ zu geben.

Und der Leser ist schließlich bezaubert, wie sich solcherart am Ende des Romans doch verschiedene Erzählstränge, getarnt hinter Kapiteln, die nach außen hin bloß wie Teile eines nicht besonders aufregenden Plots scheinen, als tiefer wirkende Wurzeln wundersam zueinanderfinden. Und so ist man als Leser letztlich doch überzeugt, dass Dietmar Krug hier ein außergewöhnliches Buch gelungen ist, bei dem man durchaus wie im Dschungel den Eindruck haben kann, der (menschlichen) Natur wie in einem überdimensionierten Treibhaus direkt beim Wachsen und Werden zuschauen zu können: „Das Treiben und Wuchern, diese rätselhafte innere Dynamik, die das Leben ausmacht, schien an diesem Ort mit Händen greifbar, wo alles, jedes Blatt, jede Faser nur dazu da zu sein schien, dem blinden, allgegenwärtigen Wuchern als Nahrung zu dienen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)

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