Bis zur Invasion der Engel

Aufbau Ost, einmal anders: Clemens Meyer widmet sich in seinem Roman „Im Stein“ auf 560 Seiten dem Aufkommen einesspeziellen Wirtschaftszweiges nach dem Fall der Berliner Mauer: dem horizontalen Gewerbe.

Als der 1977 in Halle an der Saale geborene und in Leipzig lebende Clemens Meyer 2006 mit dem Roman „Als wir träumten“, einem lebens- und sprachprallen Fünfhundertseitenziegel über Ostjugendliche der Nachwendejahre, debütierte, stand fest, dass mit diesem Autor, der nicht nur Absolvent des Leipziger Literaturinstituts war, sondern – mindestens so wichtig! – auch Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen der Arbeitswelt gesammelt hatte, der deutschsprachigen Literatur ein in vielerlei Hinsicht kräftiges und sehr eigenständiges Talent zugewachsen war. Es folgten – zu Recht – nicht nur reihenweise Preise und Stipendien, sondern auch der beachtliche, fraglos an den besten internationalen Shortstory-Autoren geschulte Geschichtenband „Die Nacht, die Lichter“, für den Meyer den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Danach erschien der gleichermaßen intensiv persönlich gehaltene, wie eindringlich-virtuos durchgestaltete Prosaband „Gewalten. Ein Tagebuch“.

Mit seinen bisherigen drei Büchern hat sich Clemens Meyer selbst die Latte für seinen zweiten Roman ziemlich hoch gelegt. Und wenn man die fast 560 großformatigen Seiten von „Im Stein“ gelesen hat, ist einem klar, dass Meyer damit keinesfalls nur bequem unter dieser hoch gelegten Latte hindurchspazieren wollte.

Es handelt sich bei diesem Werk, das sich dem horizontalen Gewerbe nicht zuletzt als Wirtschaftszweig widmet – es geht um Investitionen in Immobilien, Marktmacht, Firmenübernahmen et cetera –, auch formal um ein ehrgeiziges Unterfangen. Wobei ich bewusst nicht nach den bildungsbürgerlichen Ködern schnappen möchte, die, im Kontrast zu der dem Gegenstand angemessenen, fallweisen Drastik der Formulierungen, sehr wohl auch ausgelegt werden: das Wörtlich-Nehmen der Unterwelt (so manche Figur richtet sich in Kellerräumen ein), von wo es dann über die gut ausgetretene Piste der Aha-Effekte vom Totenreich bis zum Orpheusmythos nicht mehr weit ist. Aber Erzählungen, die etwas taugen, bedürfen keines aufgesetzten Brimboriums, mit dem vom Feuilleton die Aufnahme in eine höhere literarische Liga erbeten wird.

Karl Marx, Carl von Clausewitz und Niccolò Machiavelli hingegen ergeben sich sinnfällig aus der Geschichte, für die Clemens Meyer einen großen Stimmenteppich auslegt: Den Bogen bilden zwei Ostprostituierte, die über ihren Alltag, ihre Sehnsüchte und Wünsche sprechen, und deren Reden teilweise tatsächlich wie kunstfertige Feature-Montagen aus Originaltonaussagen anmuten. Ähnlich wie die Passagen des einzigen klassischen Zuhälters im Buch, des zu den „Ostpocken“ expandierenden „Ruhrpottluden Randy“. Aus diesem akustischen Teppich entstehen die Muster von Figuren, die persönlich immer wieder auftauchen oder von anderen Figuren erwähnt werden. Bevorzugt über den Lesern bekannte Details, ohne dass ein Name fiele. So wird natürlich bei der Lektüre anhaltende Aufmerksamkeit eingefordert, aber auch entsprechend belohnt.

Manche Figur verliert sich irgendwann im großen Ganzen des Gewebes, mag sie anfangs auch in so eindringlicher Zeichnung hervorgetreten sein wie der tragische Exjockey, der sich der unablässigen Suche nach seiner mit 14 über das Drogenmilieu in die Prostitution abgeglittenen Tochter verschrieben hat. Diese Aufgabe reibt ihn regelrecht im Wortsinn auf – irgendwann ist er im Romangeschehen nur noch über vereinzelte Erinnerungen an ihn oder seine Tochter vorhanden, die ihrerseits für die Leser nie sichtbar wird. Das ist gut gemacht und eine feine Idee!

Bei den Personen – dem belesenen BWL-Absolventen und „Vermieterkönig“ Arnold Kraushaar oder seinem Bewunderer Hans Pieczek –, die beinahe Protagonistenstellungen im herkömmlichen Sinn einnehmen, bewegt Meyer sich kunstvoll auf unterschiedlichen Zeitebenen und Schauplätzen, die er fast filmtechnisch in- und aneinanderschneidet. Wobei es ihm offenkundig in erster Linie um die Bewusstseinsströme seiner Figuren geht. Und als es Kraushaar nach Tokio verschlägt, werden die Szenen ziemlich surreal.

Insgesamt wird mit einer assoziationsreichen Sprache erzählt; beim überschäumenden Rotlichtradiomoderator Ecki schwingt fast ein Jelinek-Echo mit. Vom Schlager- bis zum Klassikzitat schöpft Meyer aus einem großen Reservoir. Und er meidet auch das von Schöngeistern oft verpönte Terrain des Kalauers nicht, das, nebenbei gesagt, den Figuren dieses Romans ja nicht fremd ist. Auch wenn unsereins mangels persönlicher Bekanntschaften aus dem Milieu verblüfft ist, zu welchen intellektuellen Höhenflügen Meyer Menschen befähigt, die in der Gesellschaft über so wenig Prestige verfügen wie Angehörige der sogenannten Rotlichtszene.

Aber jemand wie Arnold Kraushaar sieht sich hauptsächlich als Geschäftsmann, der Zimmer an freiwillig arbeitende Prostituierte vermietet und ihnen dafür ein Vollservice an Schutz und Annoncierung ihrer Dienste bietet – also auch Unabhängigkeit von klassischen Zuhältern. „Schweine Hans“ (Pieczek), ursprünglich Schlachter, ist auch keineswegs eine reine Dumpfbacke. Ebenso wie ein vorgeblicher Adeliger.

Meyer spart die Brutalität nicht aus – ein „Arschloch“ wird erschossen, ihm ein Bein abgesägt, Kraushaar werden die Beine zerschossen, im Moor tauchen Leichen auf (auch die Jockey-Tochter?) et cetera –, wobei ein wenig der rohen Gewalt womöglich hinter den hohen ästhetischen Anspruch ihrer Beschreibung zurücktritt.

Politische Korruption, im Milieu mitmischende Ex-Stasi-Leute, Prostitutionsgesetz, Hurenkongress, geschichtliche Exkurse zum Thema („Rotkäppchen“ als erste Hure) und so weiter. Clemens Meyer leuchtet, bis hin zu einer „Tatort“-Fernsehkritik, vieles aus, was zu dieser Variante des Aufbaus Ost gehört – „Bordelle und bordellähnliche Betriebe existierten ja zu DDR-Zeiten de facto nicht“ –, der seine dramatischste Phase erlebt, als die „Engel“ (gemeint: die Hells Angels) einfallen und das Geschäft an sich zu reißen beginnen.

Clemens Meyer verhehlt in diesem Rotlichtroman, in dem das Nachtgeschäft („die „Aktie Rot“) hauptsächlich das Tagesgeschäft der Wohnungsprostitution ist, seine Zuneigung für die Menschen dieses Gewerbes nicht. Er zeigt es in seinem oft auch expressiven und poetischen Wenderoman deutlich als Teil des allgemeinen Wirtschaftslebens, dessen Phänomene es letztlich ja auch bestimmen, wenn man von der körperlichen Gewaltanwendung absieht.

Nachdem man über die intensiven Bewusstseinsströme der vielen Figuren durch das Rotlichtmilieu gesurft ist, ist man froh, es wieder verlassen zu dürfen, aber auch, diesen starken Roman von Clemens Meyer gelesen zu haben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)

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