Letzter Halt Grado

Josef Maria Auchentaller: einst zweiter Mann hinter Gustav Klimt in der Wiener Secession. Bis er in Grado strandet: als „Prinzgemahl“ einer ehrgeizigen Frau, die in dem Lagunenort den Tourismus aufbaut. Egyd Gstättners Roman „Das Geisterschiff“ – die Rettung einer Künstlerpersönlichkeit.

Wenn es ein typisches Sujet für die Pioniertage der Sommerfrische an den Gestaden Kakaniens gibt, dann ist es jenes von Josef Maria Auchentaller: das Plakat „Seebad Grado. Österreichisches Küstenland“. Zu sehen übrigens in der Ausstellung „Österreichs Riviera“ im Wien-Museum. Es zeigt zwei jüngere, feine Damen in langen, weißen Kleidern und hochgesteckten Haaren. Im Hintergrund lugen die blauweißen Streifen einer Badekabine hervor, daneben schemenhaft ein paar Badegäste. Ganz hinten, mehr erahn- denn sichtbar: die Adria. Es scheint eine leichte Brise zu wehen, denn die Hüte sind etwas in Bewegung geraten, die Dame rechts muss ihn halten, damit er nicht davonfliegt. „Plötzlich hatte ich das Bild! Plötzlich hatte ich die Perspektive, plötzlich wusste ich, wie es ging, wie es gehen musste: nicht der Strand vom Meer aus. Das Meer vom Strand aus! Verlockend ist das Meer im Hintergrund, nicht im Vordergrund.“

Ob Auchentaller wirklich so lange mit dem Motiv für das Werbeplakat von Grado gerungen hat, wie Gstättner das in seinem Roman „Das Geisterschiff“ beschreibt, und ob es tatsächlich Emma, Auchentallers hochverehrte Frau, war, die ihn bei einem Spaziergang im Wind inspiriert hat, das ist nicht wirklich verbürgt. Wie nur wenig aus dem Leben von Josef Maria Auchentaller bekannt ist, diesem 1865 in Wien geborenen und 1949 in Grado verstorbenen Künstler. Um die Jahrhundertwende war er Teil einer der aufbrechenden Kunstszene, der Secession, und Teil des aktiven Ausstellungsbetriebs in Wien. Doch dann verliert sich die Spur des Malers, mehr noch als die seiner Weggefährten. „Vielleicht hat ein Auchentaller in Wirklichkeit nie gelebt. Vielleicht habe ich seine Geschichte nur geträumt. Vielleicht werde ich seine Geschichte einfach erfinden“, schließt Gstättner im Epilog seines Romans.

Eingangs stellt er in Aussicht, nicht Biograf, sondern vielmehr Autor eines Künstlerromans zu sein. Damit kann er sich fiktionale Freiheiten herausnehmen, Spekulationen, eine intensivere Seelenbeschau, ein „So hätte es sein können“, das Künstlerleben nämlich, das alle Phasen des Ruhms, Aufstieg, Triumph, Abstieg und den Aufstieg zum Klassiker, durchschreitet und dem am Ende die Ehre zukommt, die es verdient hätte.

„Aber so war es nicht“ – nicht in Gstättners Roman, nicht im Leben des Künstlers. Der Jugendstilmaler ist einer der großen Vergessenen, wenngleich seine Bilder heute, im nostalgischen Kontext, durchaus präsent sind: Plakatkunst und Werbegrafiken, Jugendstilornamentik und Schmuckstücke, lichte Porträts und atmosphärische Meereslandschaften. Bei aller Fiktion sind es die großen Tatsachen, in die Gstättner dieses Schicksal einspannt: die Bilder, die Familie, der Verlust der geliebten Tochter und eines Teils der Bilder auf dem Weg nach Argentinien. Auchentaller war Secessionist der allerersten Stunde und Zeitgenosse Gustav Klimts („Wer war das? Mein Kollege? Mein Rivale?“), Aufträge verteilten sich auf die beiden. Bekam Klimt den einen Raum, den einen Fries, bekam Auchentaller den anderen. Er arbeitete für die Zeitschrift „Ver Sacrum“, ihm war eine ganze Nummer der „Jugend“, der stilbildenden Publikation gewidmet. Man traf sich im Café Nihilismus.

Doch Auchentaller trieb es bald weg von Wien, nach München, wo er ebenfalls Mitglied der Secession wurde. Und eine italienische Reise, auf der er eifrig kopierte und skizzierte, ließ ihn und seine Familie schließlich in Grado anlegen. Oder besser gesagt: stranden. Denn es war Emma, seine Frau, die hier Wurzeln schlagen wollte, zuerst der Gesundheit der kranken Tochter Maria Josepha wegen, bald, weil der Ort sie beflügelte. Mit Geschäftssinn und Vision gehört sie zu den Ersten, die den Tourismus in diesem verschlafenen Lagunenort an der oberen Adria in die Gänge brachte. Ein Drama, ja Tragödie für einen Mann von gestern, einer akklamierten Künstlernatur, der das Publikum abhandengekommen war: „Seit fast 30 Jahren leben wir jetzt hier in Grado. Emma als Hotelier, ich als Niemand. Der Titel ihres Buches über mich müsste lauten: ,Der Prinzgemahl‘.“

An der Stelle des alten napoleonischen Forts errichteten die Auchentallers nach Plänen von Josef Mayreder 1904 ein Hotel, die Villa Fortino, ein Gebäude, das der Maler mit Sgraffiti ausstattete. Schnell wurde expandiert, schließlich kam die Insel Morgo in den Besitz der Familie, eine Landwirtschaft sollte den Betrieb autarker machen. Dort befindet sich das Grab von Maria Josepha. Das wenige, was von der Existenz der Familie zeugt.

Eine legendäre Villa, in der nach der Jahrhundertwende viele bekannte Gäste abstiegen: von dem Maler Carl Moll, den Zacherls, für deren Insektenvernichtungsmittel Auchentaller Werbesujets entwarf, bis hin zu Otto Wagner, der – so erzählt es Gstättner – überrascht war, eine Rechnung für den Urlaub vorgelegt zu bekommen. Es ist eine ganze Ära, die Gstättner da heraufbeschwört und auch wieder verabschiedet. Er holt viele Persönlichkeiten auf die Bühne, retrospektiv, mit einer Unmittelbarkeit, die nur die ganz private Erinnerung hervorzubringen vermag. Wie Gstättner durch das Ich von Auchentaller hindurcherzählt, sinniert und resümiert, hat eine besondere Lebendigkeit und heutige Frische. Diese Haltung zeichnet das „Geisterschiff“ auch aus: das Aufgehen des Erzählers in der Person.

Erst in den letzten Jahren hat eine neue Auchentaller-Rezeption eingesetzt. Lange hat es der Kunstbetrieb verabsäumt, diese zweite Leitfigur neben Gustav Klimt und das Gründungsmitglied der Secession, in der kaum etwas an ihn erinnert, ans Licht zu holen. Nach ein paar Ausstellungen (etwa jene von 2009 im Leopold-Museum) kann Gstättners Künstlerroman vielleicht als Akt der Gerechtigkeit gesehen werden. Freilich ist diese Reanimation Nebeneffekt einer weit spannenderen psychologischen Geschichte: Gstättner muss wohl die Zerrissenheit der Figur zwischen ihrem Selbstanspruch und ihrer Stellung in der Welt, ihrer Emphase und ihrer Kapitulation interessiert haben.

Der Bruch in der Biografie wird resignierend hingenommen. Zur Randfigur im Kunstbetrieb wurde Auchentaller nicht seines Schaffens wegen – wenngleich nach dem Ersten Weltkrieg vieles wie ausgelöscht schien –, sondern aufgrund seiner Haltung: „Hier aber wurde ich in der kürzesten Zeit ein kleiner verschüchterter Maler. Letztlich war ich hier bei allem nur Zuschauer.“ Erstaunlich ist aus heutiger Perspektive, wie sehr die Präsenz vor Ort offensichtlich über das künstlerische Schicksal entschieden hat: „Alles hängt in Wien mit allem zusammen, alles hängt voneinander ab. Im Guten wie im Unguten.“ So ist eine poetische Rettung geschehen, am Schauplatz Grado zumindest. ■


Egyd Gstättner stellt am 21. November um 16.15 Uhr im Literaturcafé auf der Buch Wien, Halle D, seinen Roman vor.

Egyd Gstättner

Das Geisterschiff

Ein Künstlerroman. 288 S., geb., €22,90 (Picus Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.