Die doppelte Fremdheit

„Mein Großvater hätte mich erschossen!“ Diesen Schluss zieht die Farbige Jennifer Teege, als sie eines Tages entdeckt, dass sie die Enkelin eines NS-Verbrechers ist: des KZ-Kommandanten Amon Göth. „Amon“: ein Lebensbericht.

Es gibt reale Geschichten, bei denen es den Anschein hat, als seien sie in der Drehbuchwerkstatt von Hollywood geschrieben worden. Das Leben von Jennifer Teege zählt beispielsweise dazu. „Mein Großvater hätte mich erschossen.“ Der Umschlag zeigt eine dunkelhäutige Frau, Enkelin des KZ-Kommandanten Amon Göth (geboren am 11.Dezember 1908 in Wien, gehenkt am 13.September 1946 in Krakau). Wie kommt eine dunkelhäutige Frau in diese Familie, deren Vorfahren in einer Villa im Lager in Plaszów in Krakau ein Luxusleben geführt haben?

Amon Göth ist Millionen aus dem Film „Schindlers Liste“ als jener Sadist bekannt, der vom Balkon seiner Villa Juden zu erschießen pflegte. Wer glaubt, mehr geht wohl nicht, mehr Widerspruch sei nicht zu verpacken, der irrt. Denn Jennifer Teege wusste Jahrzehnte nichts von ihrer Familiengeschichte, da ihre Mutter Monika Göth sie zur Adoption freigegeben hatte.

Zufällig entdeckt sie in einer Bibliothek das Buch „Ich muss doch meinen Vater lieben“ und darin ein Foto ihrer geliebten Großmutter, die mit dem KZ-Kommandanten zusammengelebt, ihn nach seinem Todesurteil noch geheiratet, seinen Namen angenommen und bis zu ihrem Tod seine Verbrechen geleugnet hat.

Für die Enkelin scheinen die Depressionen und ihre Traurigkeit nach der Entdeckung und den Filmen, die über Großmutter und Mutter gedreht wurden, einen klaren Ausgangspunkt zu haben – und sie fragt sich: „War mein ganzes Leben eine Lüge? Ich komme mir vor, als sei ich unter falschem Namen unterwegs gewesen, als hätte ich alle betrogen. Dabei bin ich diejenige, die betrogen wurde, um meine Geschichte.“

Das Buch schildert die Suche nach der eigenen Geschichte von Jennifer Teege alias Jennifer Göth. Die persönliche Sicht der Protagonistin wird durch objektivierende Einschübe der Journalistin Nikola Sellmair kommentiert. Ein Leben in einer doppelten Fremdheit, mit der Geschichte der Großeltern und der Tatsache der Adoption und dem Gefühl, von der Mutter weggegeben und nicht geliebt und angenommen worden zu sein.

Wenn Täter und Opfer des Nationalsozialismus etwas verbindet, dann sind es das „Schweigekartell“ und die Tatsache, dass erst die dritte Generation in der Lage ist, sich auf „die“ Geschichte einzulassen, nicht nur zuzuhören und zu ertragen, sondern auch Fragen zu stellen und in einen Dialog zu treten. Diese in Deutschland wie Österreich verbreitete Vergangenheit ist keine Frage von Büchern und Denkmälern, sondern lebt in den Familien. Unter dem Teppich, in Hintergedanken bricht es unkontrolliert hervor, emotionalisiert und kränkt. Vorschnelle Wegweiser, die „uns“ auf die Coach legen, sind so häufig wie unseriös. Geschichte als Krankheit.

Für eine umfassende Mentalitätsgeschichtsschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird wohl noch einige Zeit vergehen müssen, wie auch der Historiker Wolfgang Benz konstatiert. Die Vorboten dafür sind nicht mehr zu übersehen. In den letzten Jahren häufen sich die Darstellungen der Enkelgeneration. Nicht mehr nur „was war“, sondern wie „es wirkt“, rückt in den Fokus. Bekenntnisliteratur wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Voyeurismus und einer Materialisierung des „Bauchgefühls“.

Heute, da man von jedem Sportler nach einem Torschuss oder nach einem gewonnenen Rennen weiß, was er denn gefühlt habe. Gefühle sind keine Sache von Historikern mehr; die Psyche zu analysieren ist ein schwieriges Unterfangen, leicht läuft man Gefahr, in Kalendersprüche und Binsenweisheiten, also in die Banalität, abzurutschen.

„War mein Leben eine Lüge?“

Meilenweit davon entfernt und auf sicherem Boden bewegen sich Teege und Sellmair. Wie es ihnen gelingt, den Prozess des Bewusstwerdens, der Suche, der quälenden Fragen darzustellen, macht dieses Buch zu etwas Besonderem.

Wenn diese Geschichte zu einem Prototyp werden sollte, dann vielleicht auch deswegen, weil die doppelte Fremdheit auch eine doppelte Unschuld bedeutet, denn Jennifer Teege kann nicht der Vorwurf gemacht werden, nicht hingehört oder keine Fragen gestellt zu haben.

Sie macht sich auf eine vierjährige schmerzliche Reise. „Ich kann die Geschichte meines Großvaters nicht einfach in eine Schublade packen, sie zumachen und sagen: ,Es ist vorbei, es betrifft mich nicht mehr.‘ Das wäre eine Verrat an den Opfern.“ Zu akzeptieren, was war, ist umso schwieriger, als sie den Großvater selbst nie kennengelernt hat, aber mit der Liebe der Großmutter zu ihm konfrontiert ist. Einen Tag nach einem Filminterview über ihre Rolle während der NS-Zeit nimmt sie sich das Leben. Die Situation für die Enkel ist nicht weniger schmerzlich, aber sie werden zum Beispiel nicht mehr geschlagen, wenn sie beginnen, Fragen zu stellen, wie dies die Großmutter mit ihrer Tochter noch getan hat. „Es kostet viel Kraft, das Lügengebäude ihrer Mutter einzureißen. Es wäre bequemer gewesen, es nicht zu tun.“

Da Jennifer Teege vier Jahre auch in Israel gelebt und dort studiert hat, und sie nach der Entdeckung ihrer „richtigen“ Familie auch damit konfrontiert ist, diese Verwandtschaft ihren israelischen Freundinnen mitzuteilen, wird durch dieses Lebensdrehbuch auch die Sicht auf Israel, mit all den vielfältigen sozialen und politischen Konflikten im Land, zum Thema. Dies geschieht ohne vorschnelle Urteile und ist somit auch eher die Ausnahme hierzulande.

Nicht zuletzt ist die Geschichte von Jennifer Teege nicht nur eine Auseinandersetzung mit Verharmlosungen der NS-Zeit, sondern auch eine eindringliche Schilderung der wechselnden Beziehungen zu den Adoptiveltern. Dass sich auch der Adoptivvater verbissen an der NS-Geschichte seiner Eltern „abarbeitet“, verdeutlicht den universalen Charakter dieser notwendigen und in allzu vielen Fällen noch ausstehenden Identitätsfindung.

Am Ende des Buches trifft Jennifer Teege die Schulklasse ihrer israelischen Freundin, die als Abschluss der Gedenkfahrt nach Polen zu Konzentrationslagern und Gedenkstätten auch das ehemalige Lager in Plaszów besucht. Dass Teege, nachdem sie vor den Jugendlichen über ihre Familiengeschichte gesprochen hat, aufgefordert wird, die Blumen am Denkmal niederzulegen, markiert den „filmischen“ Schluss.

Das mag manchem möglicherweise eine zu wohlgesetzte Dramaturgie sein, die aber eines auf alle Fälle vermittelt: Hoffnung. Und sie ist notwendig, stellt sich aber nicht ein, wenn Vorgefasstes akzeptiert wird. Dass der Prozess individueller Aufarbeitung möglich ist, macht „Amon“ deutlich – und damit obendrein Mut, dies zu tun. ■

Jennifer Teege, Nikola Sellmair

Amon

Mein Großvater hätte mich erschossen. 272 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2013)

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