„Angst, du kalter Engel“

Über manches, worüber man nicht sprechen kann, könne man schreiben. Mit dieser Einstellung ging Renate Welsh an die Aufgabe heran, in Wien eine Schreibwerkstätte für ehemals Obdachlose zu leiten. Eine Auswahl der dort entstandenen Texte hat sie nun als Buch herausgegeben: „Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen“.

Es ist kein Nachteil, wenn manSchicksalsschlägen, persönlichen Niederlagen, ja schlimmen Situationen im Allgemeinen mit Witz und Ironie begegnen kann. Ein Witz umschreibt manches treffender als jede Beschreibung. Er erklärt nicht, sondern bringt das Wesentliche auf den Punkt und macht es dadurch offensichtlich. Ironie weist den Weg zur Erträglichkeit des scheinbar Unerträglichen. Dadurch kommt man der Wahrheit näher. „Die Wahrheit ist bitter, aber nicht giftig“, schreibt Maria Kaneva. Man muss sie sich nur eingestehen und ungeschminkt – vielleicht auch bitter-ironisch – zu Papier bringen, wie zum Beispiel Markus Trexler: „Ich sagte meiner Ex-Exfreundin fünf Jahre lang: ,Ich liebe dich.‘ Es stimmte aber nur ein Jahr.“ Oder aber man begegnet den Zwängen und Enttäuschungen des Lebens mit augenzwinkerndem Trotz: „Was sagt die Schlange zu Eva?“, fragt Haynalka Kutka. „Der Apfel ist verboten! Grenzen. Trotzdem: Probieren und nehmen!“

Maria Kaneva, Markus Trexler und Haynalka Kutka haben eines gemeinsam: Sie sind Bewohner des VinziRast-CortiHauses, einer Notschlafstelle in Wien, die etwa 50 Menschen ein Bett, ein Frühstück und ein Abendessen zur Verfügung stellt. Die zitierten Sätze stammen aus einer von der Schriftstellerin Renate Welsh geleiteten Schreibwerkstätte für ehemals Obdachlose, die in der VinziRast eine Bleibe gefunden haben. Eine Auswahl der seit 2007 entstandenen Texte wurde nun unter dem Titel „Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen“ als Buch publiziert.

Renate Welsh, Jahrgang 1937, ist eine arrivierte Autorin, die ein beachtliches Werk vorzuweisen hat, zu dem neben Romanen wie „Liebe Schwester“, „Die schöne Aussicht“ oder „Das Lufthaus“ auch Klassiker derKinder- und Jugendbuchliteratur gehören wie „Das Vamperl“ oder „Johanna“. Schreibwerkstätten leitet Welsh schon seit Jahrzehnten. Doch „ausgerechnet Schreiben mit Menschen, die wahrlich andere, existenziellere Sorgen haben?“, fragt die Autorin im Nachwort zu diesem Band und beantwortet diese Frage sogleich mit einem deutlichen: „Ja, ausgerechnet Schreiben. Weil diese Menschenetwas zu sagen haben, nach dem sie kaum je gefragt wurden, und weil das, was sie zu sagen haben, wichtig ist“, zumal „jede Beschäftigung mit Literatur im weitesten Sinn Selbsterfahrung miteinschließt“.

Über manches, worüber man nicht sprechen kann, könne man schreiben. Der Bleistift in der Hand habe dabei „die Funktion eines Wanderstabs, auf den man sich auch stützen kann, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährliches Gelände zu betreten“. Gefährliches Gelände betritt beispielsweise Norbert Weisz im Kapitel, das den Titel „Von Töchtern und Söhnen“ trägt. „Man hat versucht, mich lebendig zu begraben“, schreibt er. Norbert Weisz, der Rollstuhlfahrer mit „angeschlagenem Leben und Herzen“, hat auch folgenden Satz formuliert: „Es ist nicht leicht, immer der zu sein, der etwas bekommen muss.“ Dies könnte man als Leitmotiv in vielen der brüchigen Biografien erkennen, die in Gedichten, Aphorismen, Anekdoten und Kurzprosastücken dargelegt, poetisch variiert, berührend erzählt, ironisch gebrochen oder auf paradoxe Weise zugespitzt werden. „Ich habe seit zwei Wochen angefangen, zum Trinken aufzuhören“, schreibt Josef Zierl. Witziger, treffender und lapidarer kann man das Wesen einer Sucht nicht darstellen.

Die meisten Menschen, die auf der Straße gelandet sind, hatten selten das bekommen, was sie hätten bekommen müssen, weder von den Eltern noch von der Gesellschaft, vom Staat, von Mitmenschen, die sich in entscheidenden Momenten ihres Lebens um sie hätten kümmern sollen. Viele hatten weder die Möglichkeit noch die Selbstsicherheit, irgendetwas wie selbstverständlich einzufordern. Trotzdem (oder gerade deshalb) gehören die Texte über die Eltern, vor allem aber jene über die eigenen Kinder zu den berührendsten Stellen des Buches.

Nicht jede und nicht jeder wurde von den Eltern vernachlässigt und geschlagen, wuchs mit neun Geschwistern in einer Substandardwohnung auf, hat eine Alkohol- oder Drogensuchtkarriere hinter sich oder ist „durch eigene Blödheit abgestürzt komplett“. Die Bulgarin Maria Kaneva erhielt nach einem langen Berufsleben als Buchhalterin eine Pension von 45 Euro im Monat. Davon konnte sie nicht leben und noch weniger ihren Sohn unterstützen, der studierte. Der Automatisierungstechniker Philipp Koleritsch erlitt im Alter von 25Jahren nach einem Unfall ein Schädelhirntrauma und lag sieben Monate im Koma. Moctar Delassejaby flüchtete zu Fuß vor dem Krieg in seiner Heimat, Elfenbeinküste, durch halb Afrika und kam über Lampedusa nach Europa.

Und Haynalka Kutka, die „Zigeunerin mit der Geige“, Heim- und Pflegekind, in der Schule stets verspottet, war, ob in der Türkei, in Deutschland oder in Österreich, immer auf der Straße. In einem ihrer Gedichte heißt es: „Dein Herz ist kalt. Warum? Wohin gehst du, kalte Zeit? Ich habe Angst, du kalter Engel. Kommst du?“ Und in einem anderen Gedicht: „Egal was du bist, Engel oder Teufel, du bist ich! Beides, schwarz und weiß. Ich kann dich nicht verlassen.“ In diesen Strophen ist, wie in vielen anderen Texten des Buches, eine Haltung zu erkennen, die Hoffnung miteinschließt: Hoffnung, mit der Akzeptanz der Widersprüche und der Brüchigkeit des eigenen Selbst einen Neuanfang wagen zu können.

„Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen“ ist eine beeindruckende Anthologie. Renate Welsh, die auch als Herausgeberin fungiert, hat die Beiträge ausgewählt und nach Themenschwerpunkten geordnet. Die kunstvoll und symbolträchtig arrangierten Schwarz-Weiß-Fotos von Aleksandra Pawloff bieten eine gelungene Ergänzung zu den Texten. Auf den Bildern sieht man die Autorinnen und Autoren des Buches meist dort, wo sie heute zu Hause sind: in der VinziRast, aber auch an ihren Lieblingsplätzen in Wien, auf der Straße, auf oder unter Brücken oder in Korridoren.

Was für mich diesen Sammelband so besonders wertvoll macht, ist vor allem die Tatsache, dass er zu zeigen vermag, wie bedeutsam Sprache sein kann, wenn man sie nicht zu einer programmatischen Aussage verbiegt oder zwingt, das Unsagbare mit leeren Hülsen in die Ferne zu rücken, sondern sie stattdessen verwendet, um dem, was nur unausgesprochen Gültigkeit hat, einen Rahmen und somit Konturen zu geben. Dadurch werden Auslassungen begreifbar, das Gesagte wirkt exemplarisch, eine Pointe ist nicht Schlusspunkt, sondern Denkanstoß.

Dass Renate Welsh es geschafft hat, Menschen, von denen sicher einige bis dahin kaum etwas gelesen oder gar geschrieben haben, zu tiefsinnigen, berührenden und humorvollen Texten zu animieren, ist eine Leistung, die nur von einer Autorin ihres Ranges erbracht werden konnte. ■

Renate Welsh (Hrsg.)

Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen

Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast und CortiHaus. Mit Fotos von Aleksandra Pawloff. 160 S., brosch., € 19,90 (Dom Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2013)

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