Das Gemetzel von Katyn

Ungewöhnliche Veröffentlichung: eine Sammlung von Beiträgen, Interviews und Fachartikeln zur Geschichte der Sowjetunion durch das Prisma von KGB-Akten.

Der russische FSB (vormals KGB) bietet seit einigen Jahren die Möglichkeit für Historiker, Akten seines umfangreichen und weitverzweigten Archivs einzusehen. Der Zugang ist noch auf vorher festzulegende Themen beschränkt und insofern selektiv. Allerdings erschließt sich dem Benutzer ein umfangreicher Fundus an Geheimdienst-Akten. Zu diesem Zweck wurde im Zentrum Moskaus, einen Steinwurf von der KGB-Zentrale, der Lubjanka, entfernt, ein eigener Benutzersaal mit der dazugehörigen Infrastruktur eingerichtet. Die von den Benützern bestellten Akten werden teilweise an die tausend Kilometer weit herangeschafft, weil die Archivdepots des Geheimdienstes teilweise weit außerhalb Moskaus angelegt wurden. Dieser FSB/KGB-light überrascht. Ebenso wie die vom FSB herausgegebene historische Zeitschrift mit bemerkenswerten Artikeln zu zeitgeschichtlichen Themen.

Nun legt der Leiter des FSB-Archivdienstes, der Historiker Vasilij Christoforov, Mitglied der Österreichisch-Russischen Historikerkommission und Lehrbeauftragter an der renommierten Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität Russlands (RGGU), eine umfangreiche Sammlung eigener Beiträge, Interviews und Fachartikel zu einzelnen Abschnitten der Zeitgeschichte des Landes durch das Prisma der KGB-Akten vor. Die Art der Veröffentlichung ist eher ungewöhnlich, dürfte jedoch eine gangbare Möglichkeit sein, die Erkenntnisse der KGB-Historiker beziehungsweise die teilweise brisanten Inhalte zu präsentieren. Denn bei den zur Darstellung der einzelnen Themenbereiche verwendeten Materialien handelt es sich zum großen Teil um Akten, die vom KGB beziehungsweise seinen Vorgängerorganisationen den Spitzengremien des Sowjetstaates zur Entscheidungshilfe vorgelegt wurden. Es sind Quellen, die zwischenzeitlich auch geöffnet und Historikern zugänglich gemacht wurden.

Die Geschichte des Landes auf KGB-Aktenbasis in einem Buch darzustellen ist natürlich ein nicht zu realisierendes Vorhaben. Es kann sich daher nur um einzelne, selektiv ausgewählte Themenfelder handeln, die vom Autor seit 1992 bearbeitet werden konnten. Dennoch nötigt der Inhalt Respekt ab, weil die Themenpalette ein weites Feld umspannt, in Politik, Gesellschaft und Geheimdienst. Jedes einzelne Themenfeld wäre eine eingehende Besprechung wert. Hier soll nur ein grober Überblick geboten werden. Das Buch enthält Tabuthemen, wie die Hinrichtung Zehntausender Polen bei Katyn durch NKWD-Organe, verschiedene Spionageskandale (etwa das Schicksal der Gattin des Topspions Sorge), Fragen der sowjetischen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg, des Umgangs mit den Partisanenverbänden, die umfangreichen Evakuierungen und Verlagerungen von militärischen Anlagen nach dem Osten des Landes (vor allem in den Ural), die besonders heikle Gegenspionage, den Auslandsgeheimdienst (1. Hauptverwaltung)und seine Residenturen im Ausland, die systemimmanente politische Repression in der Sowjetunion (besonders den „Großen Terror“ der späten 1930er-Jahre), Schicksale einzelner Menschen, deren Spuren im Inneren des KGB, in der Lubjanka, verschwanden. Unter ihnen auch jenes von Raoul Wallenberg, dem schwedischen Diplomaten, der 1944/45 in Budapest Zehntausenden Juden das Leben rettete und dessen weiteres Schicksal in sowjetischer Hand noch weitgehend ungeklärt ist. Aus persönlichen Motiven legt der Autor einen weiteren Fokus auf den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan (1979 bis 1989).

Die ganz besonders auch für Hunderte Österreicherinnen und Österreicher wichtige Erörterung von Fragen der Rehabilitierung der Millionen politischer Opfer, von Kriegsverbrechern und von Zivilinternierten sowie die Probleme der Öffnung und Zugänglichmachung von KGB-Akten beziehungsweiseder quellenkritische Umgang mit ihnen runden das Buch ab. In vielen Fragen werden durch die KGB-Materialien völlig neue Einsichten geboten, Zusammenhänge erklärt, die bisher verborgen waren.

Insgesamt ein buntes Bild an Themen, akten- und facettenreich aufbereitet. Ein erster, ermutigender und wichtiger Schritt, insbesondere auch vor dem Hintergrund der aktuellen geschichtspolitischen Entwicklung in Russland. ■

V. S. Christoforov

Istorija strany v dokumentach arhivov FSB Rossii

Die Geschichte des Landes in den Dokumenten der Archive des Föderalen Sicherheitsdienstes Russlands. 958 S., Moskau 2013

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2014)

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