„Es kam so wie immer“

Träume materialisierten sich meistens in einer alptraumhaften Wirklichkeit. Zu diesem Schluss kommt der Historiker Dietmar Neutatz in seiner „Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“. Sein Ansatz: das Riesenreich anhand der Jahre 1900, 1926, 1942 und 1966 multiperspektivisch zu beschreiben.

Es gibt so gut wie kein Buch und kaum eine Diskussion über Russland, in der nicht der russische Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (1803 bis 1973) zitiert wird. Mit seinem berühmten Satz, dass man „Russland mit dem Verstand nicht begreifen, mit allgemeinen Maßstäben nicht messen“ könne, weil es „ein besonderes Wesen“ habe – deshalb: „An Russland kann man nur glauben.“ Inzwischen gibt es ein weiteres Zitat, das Kultstatus in Russland-Debatten erreicht hat: „Wir wollten das Beste, aber es kam so wie immer.“ Also kommentierte 1993 der damalige Ministerpräsident, Viktor Tschernomyrdin, die überaus holprig angelaufene Währungsreform. Der sarkastische Sager Tschernomyrdins ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden, um Anspruch und Wirklichkeit der russischen Geschichte und Gegenwart zu charakterisieren.

Auch in der über 600-seitigen „Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“ von Dietmar Neutatz kommen die beiden Zitate vor. Im Titel seiner Geschichte spiegelt sich sogar Tschernomyrdins Bonmot wider: „Träume und Alpträume“. Zaren und ihre Staatsdiener, Slawophile und „Westler“, Konservative und Liberale, Pragmatiker und Idealisten, Bewahrer und Revolutionäre, Menschewiki und Bolschewiki – sie alle wollten immer nur das Beste für ihr Land. Aber ihre Träume materialisierten sich meist in einer alptraumhaften Wirklichkeit. Nur China hat im 20.Jahrhundert durch Kriege und Bürgerkriege sowie durch ständiges Herumexperimentieren bei der Errichtung einer „idealen“, einer „gerechten“ Gesellschaft mehr Menschen verloren als Russland/Sowjetunion.

Ständige Suche nach eigenem Weg

Dietmar Neutatz hat den Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg, sein Doktorat hat er an der Salzburger Universität gemacht. Im renommierten C. H. Beck Verlag legt er nun den ersten Band der Reihe „Europäische Geschichte im Jahrhundert“ vor, die vom Freiburger Historiker für Neuere Geschichte, Ulrich Herbert, herausgegeben wird.

Was, werden manche fragen, schon wieder eine europäische Geschichte des 20.Jahrhunderts? Solche Reihen gibt's doch bereits. Ja schon, aber diese Reihe versucht einen neuen Ansatz, will dem interessierten Leser Ländergeschichten multiperspektivisch näherbringen, Politik, Wirtschaft, Kultur und Soziales im Zusammenhang beschreiben. In Querschnittskapiteln werden einzelne Jahre besonders ausgeleuchtet, um Lebensverhältnisse zu analysieren und die Entwicklung des Lebensstandards der Bevölkerung nachzuzeichnen.

Neutatz hat für seine Russland-Geschichte die Jahre 1900, 1926, 1942, 1966 und 1995 ausgewählt. Eine gute Idee auch, die Weltausstellungen herzunehmen, um aufzuzeigen, wie sich im Lauf des Jahrhunderts das Zarenreich/die Sowjetunion/die Russische Föderation der Außenwelt gegenüber präsentiert hat, wie diese Staatsgebilde jeweils von außen wahrgenommen werden wollten.

Einem Kardinalfehler bei der Betrachtung Russlands von außen weicht Neutatz von Anfang an konsequent aus. Korrespondenten, Historiker, Politikwissenschaftler neigen dazu, bei der Beschreibung Russlands nur Moskau und St. Petersburg im Auge zu haben. Aber die beiden großen Städte sind nicht Russland, sie sind nur ein Teil davon. Russland, das waren und sind vor allem die ländlichen Gebiete, das sind die Bauern, die Dörfer – und Neutatz stellt die ganze Studie hindurch das Leben auf dem Land dem Alltag in der Stadt gegenüber.

Gewiss, aus heutiger Sicht spielen die riesigen Landstriche im flächenmäßig größten Staat der Welt keine dominante Rolle mehr für Russlands Gedeihen. Die Kommunisten haben die Landwirtschaft in sieben Jahrzehnten weitestgehend ruiniert, unzählige Dörfer sind verfallen oder siechen nur noch dahin. Jeder, der kann, sucht ein besseres Leben in der Stadt. Aber das Bauerntum prägte bis in die 1930er-Jahre das Geschehen im Land, ehe ihm Stalin das Genick brach. Es waren die Bauernburschen, die das Kanonenfutter für die zaristischen, für die weißen und roten Heere bildeten und die mit ihrer ungeheuren Zähigkeit und ihrem Mut den Sieg über die nationalsozialistischen Besatzer erkämpften.

Russland, schreibt Neutatz, war in diesem ganzen 20. Jahrhundert immer auf der Suche nach einem richtigen Weg. Die Eliten stritten darüber, welches ausländische Modell das richtige sei und ob die eigenen Traditionen unter- oder überlegen seien. Anfang des 20. Jahrhunderts verordneten Politiker wie Finanzminister Sergej Witte dem Zarenreich eine Modernisierungskur und förderten dadurch den Zusammenhalt des Imperiums, unterminierten aber gleichzeitig die monarchistische Herrschaft. Denn Dynamik ergriff die Gesellschaft, eine politische Öffentlichkeit entstand, das Leben in den Städten begann sich zu beschleunigen – während das Leben auf dem Dorf so langsam verlief wie eh und je.

Die urbane Elite aber schaute mit Verachtung auf diese behäbige, „dunkle Masse“ draußen auf dem Land. Neutatz: „Die Bauern verstanden nicht, was die städtischen Intellektuellen von ihnen wollten, und umgekehrt verstanden die Städter nicht, in welchen Kategorien die Bauern dachten. Die hauptstädtischen Elitendiskurse geben daher kein repräsentatives Bild von Russland.“ Die Bauern waren zum überwiegenden Teil Analphabeten, sie hatten vor allem eine lokale, keine auf die russische Nation bezogene Identität.

Eine andere hochinteressante Beobachtung des Freiburger Historikers, die das Phänomen Russland erklären hilft: Die Weite des Landes habe in der russischen Selbstwahrnehmung die Vorstellung verfestigt, dass Veränderungen von oben durchgesetzt und auch zentral kontrolliert werden müssten: „Der schon von Katherina II. formulierte Konnex von Größe und autokratischem Prinzip lässt sich in Variationen bis in die Gegenwart verfolgen. Führungspersönlichkeiten und das Bedürfnis nach solchen haben daher in der russischen Geschichte stets eine entscheidende Rolle gespielt. Dem Übergewicht der Führerfigur und der zentralen Macht gegenüber stehen ein schwaches Engagement von unten sowie ein permanent gegen die Zentrale gerichtetes Misstrauen.“ Russland war und ist stark kopflastig.

Musste das zaristische Russland 1917 zwangsläufig untergehen und Platz machen für ein paar zu allem entschlossene kommunistische Revolutionäre? Auch dieser Frage, die in drei Jahren anlässlich der Erinnerung an 100 Jahre Russische Revolution bestimmt wieder auf und ab diskutiert werden wird, widmet sich Neutatz. Seine Antwort: Weder sei das Zarenreich unweigerlich dem Untergang geweiht gewesen, noch hätten die Reformversuche der liberalen Elite das Land überfordert. „Der Zivilisationsbruch des Jahres 1917 war keineswegs als wahrscheinlich angelegt. Es bedurfte erst der Verwerfungen, die durch die Überforderung Russlands im Ersten Weltkrieg entstanden, um das katastrophale Ergebnis zu zeitigen.“

Längst gehörte es auch zum Allgemeinwissen, dass der Oktober 1917 kein Massenaufstand, sondern ein Putsch einer kleinen militanten Minderheit war. Allerdings, urteilt Neutatz: „Was in den Wochen und Monaten nach der Machtergreifung der Bolschewiki folgte, stellte sich als ein grundlegender, gewaltsamer Umsturz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse heraus und rechtfertigt in der Gesamtschau durchaus die Bezeichnung ,Revolution‘.“

Es erstaunt immer wieder, mit welch ungeheurer Härte und Konsequenz die Bolschewiki die Macht in einem grausamen Bürgerkrieg behaupteten und wie sie das riesige Land in nur wenigen Jahren umformten. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft starben 13 Millionen Menschen eines unnatürlichen Todes: Sieben bis acht Millionen kamen während des Bürgerkrieges ums Leben, fünf Millionen fielen der folgenden Hungersnot zum Opfer, zwei Millionen emigrierten. Und das ist nur der Blutzoll während der ersten Jahre der bolschewistischen Herrschaft.

25 Jahre Kriegszustand

Die Jahre von 1928 bis 1953 unter Stalin charakterisiert Neutatz als permanenten Kriegszustand: Erst führte Stalin Krieg gegen die eigene Bevölkerung, danach mussten die geknechteten Bürger der Sowjetunion unter ungeheuren Opfern den deutschen Aggressor aus dem Land vertreiben.

Die Enttäuschung in der Bevölkerung war gewaltig, als das stalinistische Regime, kaum waren die Hitler-Truppen besiegt, alle Lockerungen der Kriegszeit zurücknahm und sofort wieder die Schrauben anzog. Erst unter Nikita Chruschtschow konnten die Sowjetmenschen wieder freier atmen: „Erstmals seit 1917 konnten die Menschen in der Sowjetunion beginnen, ein normales Leben zu führen, ohne ständige Angst vor dem eigenen Staat.“ In dieser Zeit begannen die jungen Sowjetbürger auch erstmals Anzeichen von Nonkonformismus zu zeigen, Konsumgüter, modische Kleidung und ausländische Musikstile zu entdecken – kurz: Individualismus. Auch das ist eine Stärke dieser Studie, dass auch das Befinden dieser Gesellschaftsschichten ausgeleuchtet wird.

Chruschtschows kommunistische Heilsversprechen waren niemals realisierbar, auch wenn die Erfolge der Sowjetunion bei der Eroberung des Weltraums und in der Rüstungstechnik zunächst anderes suggerierten. Im Wettbewerb der Systeme war die Sowjetunion schon in den 1960er-Jahren im Hintertreffen. Die Sowjetführung unter Leonid Breschnjew wusste, dass die kommunistische Kommandowirtschaft die Schwachstelle des Systems darstellte, tat aber nie etwas, um diese zu reformieren.

Als Michail Gorbatschow das in den 1980er-Jahren halbherzig versuchte, beschleunigte er damit nur noch den Kollaps des gesamten Gefüges. Aus den Trümmern der Sowjetunion erhob sich ein an seinen Rändern geschrumpftes Russland, freilich immer noch das größte Land der Welt, dem Boris Jelzin eine Radikalkur hin zur Marktwirtschaft verschrieb. Ergebnis waren ein Räuberkapitalismus und eine neue „Zeit der Wirren“ in den 1990er-Jahren. Die anhaltende Popularität Wladimir Putins gründet vor allem auch darauf, dass er der Masse der Russen wieder ein einigermaßen normales, stabiles Leben ermöglicht hat und Gehälter und Pensionen pünktlich ausbezahlt werden.

Dietmar Neutatz bemüht sich in der gesamten Studie um ausgewogene Urteile, lobpreist nicht, verteufelt nicht, vergleicht Interpretationsmuster von Historikerkollegen, orientiert sich an den nüchternen Fakten. Gut, es hat sich auch der eine oder andere kleine Fehler eingeschlichen. So gab es den Gipfel im November 1985 zwischen US-Präsident Ronald Reagan und Gorbatschow nicht in Wien, sondern in Genf. Auch ist es manchmal etwas ermüdend zu lesen, wenn er in langen Absätzen die Zahl der Kühlschränke und Fernseher pro Haushalt aufzählt.

Aber auf über 600 Seiten wird jeder etwas finden, was in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu viel und was zu wenig ausgeleuchtet wurde. Wir glauben zum Beispiel, dass Neutatz die ganze Frage des Militärischen in der russischen Gesellschaft in seiner Betrachtung unterschätzt – angefangen vom Schikanieren der Rekruten (Dedowschtschina), das die Kasernen zu einer Schule der Gewalt macht und die Gesellschaft vergiftet, bis hin zur Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes für die Wirtschaft des Landes. Den insgesamt herausragenden Gesamteindruck der Studie können solche Defizite aber nicht trüben. ■

Dietmar Neutatz
Träume und Alpträume

Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. 690 S., geb., €30,80 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2014)

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