„Ein gellender Schrei zerreißt die Luft“

Schiffsunglück vor Pola zu Beginn des Ersten Weltkriegs: Der Grazer Arzt Hermann Pfeiffer, mit seinem dreijährigen Sohn Überlebender, schildert die Ereignisse.

Im September 1914 schlug der Grazer Arzt und Universitätsprofessor Hermann Pfeiffer (37) ein Schulheft auf und schrieb für seinen kleinen Sohn auf, was am 13. August dieses Jahres passiert war. Er wusste nicht, ob er aus dem soeben begonnenen Weltkrieg heil zurückkehren werde. Also sollte der dreijährige Sohn auf diese Weise erfahren, wie seine 34 Jahre alte Mutter Grete ums Leben kam. Vater und Sohn wurden auf wundersame Weise gerettet.

Die Grazer Familie hatte ihren Adria-Urlaub wegen des Kriegsausbruchs überstürzt abgebrochen und Tickets für den österreichischen Lloyd-Dampfer „Baron Gautsch“ erworben. Von der Insel Lošinj sollte es mit 240 Passagieren und 60 Mann Besatzung nach Triest gehen, von wo die Pfeiffers per Bahn nach Graz heimkehren wollten. Doch vor der Insel Brioni wundert sich der Grazer Arzt, warum sich das Schiff so nahe am Ufer hält. Weiß der Kapitän nichts von dem Minengürtel, den die k.u.k.-Marine dort ausgelegt hatte? Unterschätzt er die lauernde Gefahr? Ist er überhaupt auf der Brücke?

Pfeiffer beobachtet mit wachsender Sorge die Manöver des Dampfers, will seine Frau an der Reling aber nicht beunruhigen. Und da passiert es. „Ein Donnerschlag, der durch den mächtigen Schiffskörper fährt“, notiert Pfeiffer in das Heft für seinen Sohn. „Ein übermächtiger Stoß, ein Klirren, Schreien, Hasten, Splittern von Holz und Eisenteilen, die durch die Luft fliegen, ein Regen von Glasscherben, der sich auf uns ergießt.“ Die Seemine reißt ein Loch in den eisernen Rumpf, das Schiff neigt sich rasch.

Die Pfeiffers rasen über die Stiegen hinab zur Kabine, wo der Sohn, „unser Alles“, vom Lärm erwacht ist und schockiert auf die Eltern wartet. Sie können den Buben aufs Sonnendeck zerren, dort ringt „ein unentwirrbarer, auf Leben u. Tod kämpfender, sich zerfleischender Menschenknäuel“. Man ergattert noch Rettungsgürtel, auch Grete Pfeiffer bindet einen um. Sie können sich an der Reling nur mehr schwer festhalten, so schief liegt das Schiff schon, es wird gleich sinken. Grete küsst ihr Kind noch einmal, schreit durch die rasende Menschenmenge: „Ich hab Dich – – –“. Dann: „Ein jäher, gellender, ohrenzerreissender Schrei zerreisst die Luft. Ein Grauen, eine Verzweiflung liegt in ihm, wie ich's noch nie gehört. Ich sehe, fühle, höre von allen Seiten die Fluten auf uns niederstürzen. Es wird Nacht um mich.“

In Todesangst umklammert Pfeiffer einen Fuß seines Kindes, während sie unter Wasser gegen Kanten und Ecken gestoßen werden. Dem Erstickungstod nahe, können sie die Wasseroberfläche erreichen. Dort „ein entsetzliches Ringen und Balgen, wahnsinniges Schreien, Fluchen, Beten, Röcheln Ertrinkender, Sterbender – vom Dampfer keine Spur mehr. Fern ein gekentertes Rettungsboot. Mehr sehe ich nicht.“ Aus der Tiefe klammern sich vier Hände an seine Fußknöchel, neuerlich wird er mit dem Buben unter Wasser gezogen. In Todesnot tritt er so lange nach unten, „bis es ruhig wurde unter mir. Ich habe bewusst zwei Menschen getötet, um unseres, Deines zu erhalten“, notiert Pfeiffer.

Am Ende ihrer Kräfte, werden die Ertrinkenden von einem italienischen Schiff geborgen. Doch Grete Pfeiffer gehörte zu den 147 Schiffstoten. In einer Halle hat man die Leichen zur Identifizierung Seite an Seite gereiht, die kleinen Kinder obenauf gelegt. So gestaltete sich Pfeiffers allerletztes Wiedersehen mit seiner Frau. In Graz sollte er Jahre später eine große akademische Karriere machen. Zweimal war er Dekan der medizinischen Fakultät, aber die traumatischen Erlebnisse des Jahres 1914 ließen ihn nie los. Über den geretteten Sohn kamen Hermann Pfeiffers Aufzeichnungen an seine Enkelin, die sie nun zur Veröffentlichung freigab.

In einer Denkschrift bemühten sich Angehörige der Opfer um Entschädigungszahlungen, wobei eine Unzahl von Fehlleistungen der Schiffsbesatzung zutage kam. Die Ermittlungen ergaben auch, dass sich weder Offiziere noch Mannschaften beim Untergang um die Passagiere kümmerten. Von acht Rettungsbooten war nur eines zu Wasser gelassen worden, „und dieses war fast ausschließlich von der Schiffsbesatzung angefüllt“; Rettungsgürtel und Schwimmwesten waren für die Verzweifelten in versperrten Kästen unerreichbar. Alarmübungen für die Mannschafthatte es überhaupt nicht gegeben.

In der Verhandlung stellte sich heraus, dass Kapitän Paul Winter zum Zeitpunkt des Unglücks schlief und der Erste Offizier schon eine Viertelstunde vor seiner Ablösung die Brücke verlassen hatte. Trotzdem durften beide Seeleute in der Marine bleiben. Sie wurden Kommandanten bei der LloydAdriatico. Die Klage der Hinterbliebenen verlief im Sande. ■

Hermann Pfeiffer

„Halte dich dicht an mich und eile!“

Der Untergang der Baron Gautsch.
Hrsg. von Ingrid Pfeiffer. 156 S., geb., €18,90 (Braumüller Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2014)

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