Sog bis zur letzten Seite

Drei Personen, drei Städte: „Bonavia“ von Dragan Velikićzeigt Europa aus der Perspektive Serbiens. Bei allen Diagnosen bleibt der Roman aber nie in seinen Einsichten stecken.

Liebe und Tod, Heimat und Fremde, Familiengeheimnisse und Zeitdiagnose – das neue Buch von Dragan Velikić spannt die großen Themen des klassischen Romans über das Städtedreieck Belgrad–Budapest–Wien. In Budapest hat die Liebe zwischen Marko und Marija begonnen, und am Romanbeginn kehren sie zurück an den „Ort des Verbrechens“, wie Marko im ersten Satz denkt und gleich hinzufügt: „Könnte man Gedanken lesen, es wäre die Hölle.“

Im sechsten Jahr ihrer Beziehung knirscht es gehörig zwischen den beiden, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Marko, der Schriftsteller, kann nichts dem Zufall überlassen, lebt im Vielleicht und ist ein Nostalgiker, dem alles zur Erinnerung gefriert, bevor er es wirklich erlebt hat. Als einen „Gärtner verpasster Möglichkeiten“ sieht ihn Marija, die studierte Philosophin, für die nur das Heute existiert. Ihr Vorbild ist die Jugendfreundin Kristina, die alles hinter sich gelassen hat. Um sie zum Abflug nach Amerika zu begleiten, war sie zum ersten Mal in Budapest.

Diese Kristina ist als Romanfigur interessant, weil sie mit Heimat- und Vergangenheitskonstruktionen aufgeladen ist und den Zusammenhang von Denken und geografischem Raum reflektiert. In Serbien fühlte sie sich „umzingelt von den Ansichten und Gewohnheiten einer klaustrophoben Welt, die sich die Weite höchstens an zuvor errichtete Wände malt“. Und sie diagnostiziert: „Das Schlagwort Patriotismus ermöglicht die Umverteilung des Kapitals.“ Alles wollte sie loswerden, kann sich jedoch nicht von einem Blick, einer Stimme, einer Sprache lösen – oder von dem Dichter Raša Borozan, mit dem sie drei Jahre zusammen war. „Wer bin ich, wenn dieser Schmerz aufhört?“, fragt sie sich. Und muss eines Tages völlig unvorbereitet im Internet lesen, dass er verstorben ist.

Kapitel um Kapitel gewinnen die Romanfiguren vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichten an Tiefenschärfe. Marko ist bei Onkel und Tante aufgewachsen, denn die Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, und der Vater hat sich nach Österreich verabschiedet. Zwölf Jahre war die Mutter älter als er, Markos uneheliche Geburt ein Zufall, und der Vater wäre auch abgehauen, hätte die Mutter überlebt – nach und nach muss sich Marko mit diesen Tatsachen konfrontieren.

„Es ist nicht einfach, wenn du hörst, dass du ungewollt auf die Welt gekommen bist. Vom Schwanz ausgespuckt“, lautet das bittere Resümee. Letzteren Satz hat Marko Onkel und Tante in der Nacht abgelauscht. Im Roman „Bonavia“ (benannt nach dem Grandhotel in Rijeka) nimmt selten etwas einen guten Weg, weder die Gesellschaft noch die Einzelschicksale. Aus ihrer Perspektive formuliert der Erzähler jedoch viele Beobachtungen, die dieses Scheitern interessant und erkenntnisträchtig machen. Viel Psychologie ist im Spiel, aber im Gegensatz zu etlichen anderen Romanen werden die Figuren dadurch nicht flach und allzu verständlich; Marko formuliert einmal seine Perspektive auf das Leben, die wohl für den ganzen Roman gilt: „Auf jedem Leben liegt ein Fluch. Nur das Absurde verspricht Rettung. Anders entgeht man der täglichen Qual des Unausgesprochenen nicht.“

Auch die brillanten Beobachtungen und Gedanken der Romanfiguren faszinieren, und darunter sind manche, die man österreichischen Kulturpatrioten und Mitteleuropa-Glorifizierern dringend ins Stammbuch schreiben müsste, wie etwa: „Die Serben beschwören den Stolz. Die Österreicher die Schönheit. Die einen wie die anderen kreischen und jodeln bloß. Die einen im Rhythmus des Kolo, die anderen im Dreivierteltakt. Letztlich sind es bloß Märsche. Totenmärsche.“ An den subtilen Österreich-Beobachtungen zeigt sich: Es hat sich gelohnt, dass Velikić vier Jahre als Botschafter Serbiens in Wien gelebt hat. Eine Leistung seines Romans ist, dass er festgefahrene Bilder von „Osteuropa“ konterkariert und uns den Spiegel vorhält.

Im Leben von Markos Vaters spiegelt sich auch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte wider – von der organisierten Abwanderung von Arbeitskräften aus Jugoslawien in den 1960er-Jahren über die Konjunktur seines „Balkan-Grills“ in Wien bis zu den Ursachen für dessen Ende: „Lange bevor der Krieg ausbrach, hatte in jugoslawischen Restaurants die nationale Abgrenzung begonnen.“ Beeindruckend ist die Begegnung Markos mit dem todkranken Vater in Wien, sein letzter Versuch, an den sich entziehenden Vater heranzukommen. Dabei wollte Marko eigentlich mit seinem Sohn, den er ebenfalls nur ein paar Mal im Jahr sieht, Geburtstag feiern. Marijas Familiengeschichte wird ebenso eingespielt; undauch die Großeltern werden sichtbar. VieleMikroszenen blitzen auf, und das Pingpong der knappen Dialoge zwischen den Figuren sitzt immer, besonders zwischen Markound Marija. Die beiden entkommen einander nicht.

Am Schluss laufen alle Fäden in Wien zusammen, denn auch Kristina kommt zur selben Zeit aus den USA zu einem Kongress in die Stadt; wie Marko und Marija wohnt sie im Hotel Urania. Schon schwant einem, da habe der Autor des Guten zu viel getan, das Zusammentreffen sei zu konstruiert; und als Kristina dann plötzlich an einem Schlaganfall stirbt, wirkt das wie ein allzu bequemer Ausstieg aus dem Erzählkosmos. Doch nein, die Kreise schließen sich nicht, Marija erfährt nicht einmal, dass Kristina in Wien gestorben ist. Auch hier bleibt ein Geheimnis. Und Kristinas Flanieren durch Wien auf den Spuren ihrer längst verstorbenen Tante öffnet noch einmal weitere Räume der Vergangenheit; vor dem plötzlichen Tod wird ihr Leben ausgeleuchtet.

Die größte Überraschung ist das Schlusskapitel, denn das Ich, das hier erzählt, ist ganz unverstellt Dragan Velikić. Er zeigt, wie tief er selbst in den Figuren und Fiktionen dieses Romans steckt. Im Bonavia in Rijeka im Dezember 2011 holt ihn die eigene Geschichte ein – die eines Sohnes, dessen Vater sich aus dem Staub machen wollte.

Damit endet dieser in seinen Figuren, seiner Sprache (die gelungene Übersetzung ist der renommierten Brigitte Döbert zu verdanken) und seinen Reflexionen so überzeugende Roman, der auch zeigt, wie Europa aus der Perspektive Serbiens aussieht. Aber bei allen Gedanken und Diagnosen, die er enthält – er bleibt nie in seinen Einsichten stecken, sondern führt mitten hinein in die Rätsel des Lebens und in die Abgründe des Zusammenlebens.

Dragan Velikić ist ein großer europäischer Roman gelungen, dessen Szenen die Untiefen des Privaten ebenso überzeugend sichtbar werden lassen wie die Signaturen der jüngsten Geschichte und Gegenwart. Und der einen Sog entfaltet, der noch lange nicht nachlässt, wenn man die letzte Seite gelesen hat. ■

Dragan Velikić

Bonavia

Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. 334 S., geb., € 20,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2014)

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