Wer nicht lügt, kann nicht fliegen

Auf der Suche nach ihren Vor-fahren stößt die Ukrainerin Katja Petrowskaja auf allerlei illustre Gestalten. Aus Erzähltem und Erforschtem, aus Erinnertem und Erdachtem entsteht ein Panorama Osteuropas im 20. Jahrhundert.

Die Wirklichkeit, / die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid / und dreht sich stumm / und dreht sich stumm / nach anderen Wirklichkeiten um.“ Wir haben alle unsere Jugendsünden. Eine meiner leidenschaftlichsten war das Rezitieren von Liedtexten André Hellers. Nun ja, ich war jung und brauchte kein Geld. Später studierte ich Geschichte, weil ich nach dem Schwarz-Weiß im Schillernden des Forellenkleids suchte. Ich dachte, die Wissenschaft wird mir Gewissheit über die (anderen) Wirklichkeiten verschaffen. Welche Naivität! Und trotzdem: Es erleichtert den Einstieg, wenn man unbefangen ist.

So unbekümmert, stelle ich mir vor, ist auch Katja Petrowskaja an die Spurensuche ihrer Familiengeschichte herangegangen. Hineingeboren in eine Familie, die vor allem aus einem besteht, aus Legenden, macht sie sich auf die Suche nach ihrer ganz persönlichen „Welt von Gestern“. „Ich habe gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze 20. Jahrhundert in der Tasche.“

Auf dem Stammbaum, der aussieht wie ein Tannenbaum, finden sich allerlei illustre Gestalten: ein Revolutionär wider Willen, von dem sie den (falschen) Namen hat; ein Kriegsheld namens Gertrud, benannt nach der Abkürzung für Geroj truda, Held der Arbeit; ein Phantom namens Judas Stern, eine Großmutter Rosa, ein Großvater Wassilij, der in den Krieg zog und erst nach 41 Jahren zurückkehrte; ein Arnold, ein Ozjel, ein Zygmunt, eine Maria und eine „Vielleicht Esther“. Genau so heißt deshalb programmatisch das Buch, das daraus entstanden ist. Denn der Vater war sich nicht mehr sicher, ob seine Großmutter wirklich Esther hieß: „Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt.“

Als Katja Petrowskaja das titelgebende Kapitel im Vorjahr beim Bachmann-Wettbewerb vorlas, war rasch klar, dass sie damit einen Nerv getroffen hatte. „Vielleicht Esther“, so analysierte Juror Hubert Winkels, zeige, „dass es keine Garantie mehr dafür gibt, was wahr ist“, weil selbst authentische Zeugen nicht mehr garantieren können, dass sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe. Und so steht die Autorin eines Tages auf dem Perron des neuen Hauptbahnhofs in Berlin und beginnt ein Zwiegespräch mit ihrem Alter Ego namens Sam, der einst von Teheran in die USA emigrierte und nun, wie er sagt, auf der Suche nach Verschwundenem sei, einem weißrussischen Dorf namens Janów Podlaski, das die versunkene Welt der Großmutter seiner Frau repräsentiere und für ihn nach seinem „forgotten lullaby, gottweißwarum, nach einem Schlüssel zum Herzen“ klinge. – Mit diesem Prolog macht Katja Petrowskaja von Beginn an klar, dass sie bei der Suche nach ihren Wurzeln von keinem wissenschaftlichen Impetus angetrieben wurde. Obwohl sich die 1970 in Kiew geborene Literaturwissenschaftlerin nicht nur Google, sondern auch wissenschaftlicher Methodik bediente, in Archiven stöberte, Quellen und Dokumente studierte und auf Reisen durch halb Europa intensiv forschte, muss sie zuletzt resümieren: Man kriegt „nur das, was man schon gesucht hat“. Je ausgiebiger sie sich auf historisches Material einlässt, umso fragmentierter wird das Wissen. Wichtig bei einer Rekonstruktion ist jedoch nicht, schreibt David Shields in seinem Manifest „Reality Hunger“, „das Rezitieren tatsächlicher Ereignisse, sondern der umfassendere Sinn, den der Autor dem Geschehen abzugewinnen vermag. Dazu bedarf es der schriftstellerischen Vorstellungskraft.“

Die große Kunst der Katja Petrowskaja besteht nun darin, dem Buch eine poetologische Wahrheit zu verleihen. Das geht natürlich nicht naiv, wie Ilma Rakusa in ihren Poetikvorlesungen unter dem Titel „Autobiografisches Schreiben als Bildungsroman“ darlegt, sondern nur, wenn man Ich und Erinnerung als brüchig entlarvt und auf den Konstruktionscharakter des Erzählten verweist. Das tut die auf Deutsch schreibende Autorin von Anfang an, indem sie zu der Liste mit ihren Verwandten augenzwinkernd anmerkt, dass sie „wie Leuchtkäfer der Vergangenheit“ vor ihr standen, „die kleinen Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen und Begebenheiten, aber nicht sich selbst“. Sie lässt ihre Figuren deshalb auftreten wie auf einer Bühne, für ein paar Momente angestrahlt vom Scheinwerfer der Erinnerung, um dann wieder im Dunkel des Vergessens zu versinken. Es sind Schemen, die hier paradieren, zusammengesetzt aus allerlei Stückwerk, aus Erzähltem, aus Erforschtem, aus Erinnertem und aus Erdachtem.

Am Anfang der Familienchronik steht ein Zeitungsartikel von 1864, in dem das Wirken Simon Gellers gewürdigt wurde. Der hatte in Wien eine Taubstummenschule gegründet, tauchte aber in keiner einschlägigen Chronik auf. Stattdessen fand sich in der Schrift „Das Allgemeine österreichische israelitische Taubstummen-Institut in Wien, 1844–1926“ ein Schimon Heller. Der zog, beseelt von der Idee, taubstummen Kindern das Sprechen beizubringen, mit seinen Schützlingen irgendwann weiter durch die polnische Provinz, von einem Schtetl zum nächsten. Sein Enkel, Ozjel Krzewin, übersetzte 60 Jahre danach aus Stolz auf seinen Großvater den Artikel ins Russische und nochmals 60 Jahre danach entdeckte die Mutter der Autorin diese Übersetzung in einem Kiewer Archiv. Lapidar merkt Petrowskaja an: „So gründete die Herkunft unserer Familie in einer fragwürdigen Übersetzung ohne Original.“

Auf der Suche nach Ozjel, der 1870 in Wien geboren worden und Vater ihrer Großmutter Rosa war, reiste Katja Petrowskaja im Wendejahr 1989 von Berlin Richtung Osten, nach Warschau und weiter an die weißrussische Grenze. Am Ende ihrer Odyssee durch Osteuropa wird sie in Österreich landen, um viele Verwandte und Geschichten reicher, der Wirklichkeit oder gar der Wahrheit aber kaum näher. „Ich drehte mich immer weiter in den Kurven dieses niemals gesprochenen Urteils, denn wer nicht lügt, kann nicht fliegen“, macht sie schon im einleitenden Dialog mit ihrer inneren Stimme klar.

Ironische Bemerkungen wie diese gibt es viele. Obwohl Katja Petrowskaja bei ihren Recherchen wahrlich in die Abgründe des 20.Jahrhunderts schaut, vom WarschauerGhetto über das Massaker von Babij Jar bis zu den Todesmärschen am Ende des Krieges, bleibt ihr Ton stets heiter. Das hebt ihr Buch heraus aus der Fülle der Erinnerungsliteratur. „Ich wollte viel zu viele Tote ins Leben zurückrufen und hatte dafür keine durchdachte Strategie“, schreibt sie an einer Stelle. Genau das ist es, was dieses Buch so sympathisch macht. Und zuletzt, ja zuletzt gelingt es Katja Petrowskaja gerade mit dieser unsystematischen Methode, so etwas wie ein Panorama des vorigen Jahrhunderts in Osteuropa zu entwerfen. Nebstbei bekommt man ein Gespür für die Zerrissenheit der Ukraine. ■

Katja Petrowskaja

Vielleicht Esther

285 S., geb., €20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2014)

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