Die Scham beim Schreiben

Aus dem „Berliner Journal“ von Max Frisch aus den 1970er-Jahren sind nun Teile erschienen. Charakterbilder von Kollegen und die unsentimentale Vermessung einer Lebens- und Schreibkrise prägen den kurzweiligen Band.

Max Frisch ist ein berühmter Autor, den in Zürich die Leute auf der Straße grüßen, ein schwerer Trinker, der im Kampf gegen den Alkohol „keine Woche ohne Niederlage“ übersteht, und ein alternder Mann von fast 62 Jahren, als er nach Berlin übersiedelt. Er fürchtet, nur mehr „drei, vier brauchbare Jahre zu haben“, leidet am bedrückenden Gefühl, dass ihm bei der täglichen Arbeit am Schreibtisch „fast gar nichts mehr gelingt“, und bemerkt, dass sein Kurzzeitgedächtnis dramatisch nachlässt. Am 6.Februar 1973 bezieht er in Berlin-Friedrichshain eine Wohnung, und am selben Tag beginnt er sein „Berliner Journal“ zu schreiben, das die hellwache Chronik einer fremden Stadt, die gänzlich unsentimentale Vermessung einer Lebens- und Schreibkrise und ein intellektuelles Logbuch vereint.

Seine täglichen Eintragungen heftet er in Ringordner ab, 1980 werden es fünf davon sein, die er in einem Züricher Banksafe deponierte und mit dem Vermerk versah, dass sie erst 20 Jahre nach seinem Tod gelesen und veröffentlicht werden dürfen. Noch kurz vor seinem Tod berichtete er, dass dieses Berliner Journal ein durchkomponiertes, ausgefeiltes Werk darstelle, also zu jenen Tagebüchern gehöre, die seinen Ruhm begründeten. Dies geschieht höchst selten, dass ein Autor zuerst nicht mit seinen Romanen oder Theaterstücken, sondern seinen Tagebüchern weltweite Resonanz findet; außer Frisch ist es im 20. Jahrhundert vielleicht nur Witold Gombrowicz und Ernst Jünger gelungen, während André Gide, Paul Valéry oder Sándor Márai, von denen heute zu erkennen ist, dass sie ihr Bestes als Diaristen gaben, bereits hohes Renomee als Lyriker, Essayisten, Romanciers besaßen, ehe sie mit ihren Tagebüchern an die Öffentlichkeit traten.

Ein durchkomponiertes Werk, das wollte Frisch hinterlassen haben, und dass es sich um ein solches handle, schreibt auch Thomas Strässle, der als Präsident der Max-Frisch-Stiftung das Berliner Journal nun herausgegeben hat. Aber nur das, was in den ersten beiden Ringmappen abgeheftet war, und auch dieses nicht zur Gänze! Alles andere habe er aus „persönlichkeitsrechtlichen Gründen“, wie er in seinem Nachwort mehr andeutet als erläutert, nicht veröffentlichen können. Wie mag das angehen? Wenn es sich um ein gestaltetes Werk, nicht bloß um eine beliebige Abfolge von Notaten handelt, kann man doch heikle Passagen nicht einfach streichen und auf drei von fünf Mappen gänzlich verzichten! Mit Persönlichkeitsrechten können nur die von Frischs Frau Marianne gemeint sein, mit der er damals in der „Ruine einer Ehe“ hauste. Als er mit kalter Verzweiflung den Prozess seines Alterns beschrieb und über den für einen Schriftsteller fatalen Zusammenhang von „Hormonen und Sprache“ grübelte, war sie gerade Mitte 30. Sie lebt noch immer in Berlin und hat sich, wie man hört, über die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte nie besorgt gezeigt. Wie auch immer: Zu lesen ist jetzt nicht das Berliner Journal, von dem Max Frisch so viele Andeutungen machte, sondern ein vielfach bearbeitetes Buch, dessen Titel daher auch „Aus dem Berliner Journal“ lautet.

Es bietet aber dennoch kurzweilige wie anregende Lektüre. Frisch hatte von der ersten Eintragung an schon die Leser im Auge, die ihm eines Tages in seinen privaten Aufzeichnungen begegnen würden. „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon die Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke.“ Zu den Talenten dieses Autors gehörte es offensichtlich, sich selbst, seine Probleme, sein Schaffen und Wirken aus der intellektuellen Distanz betrachten zu können. Während er sich der Eitelkeit zeiht, zeigt er sich doch bewundernswert uneitel, wenn er sich als „Popanz der Öffentlichkeit“ beschreibt, der zu allem und jedem befragt wird, oder sich selbst hinter das prekäre Geheimnis kommt, dass „mein soziales Engagement schleichend begann wie mein Wohlstand“. Frisch galt als Prototyp des „engagierten Literaten“, der zu gesellschaftlichen Fragen Stellung bezog und politischen Einfluss auszuüben versuchte; er war sich aber auch der Fragwürdigkeiten dieser Rolle bewusst, und im durchaus respektvollen Porträt seines Freundes und Berliner Nachbarn Günter Grass zeigt er, dass die Suche nach Öffentlichkeit zur Sucht werden kann: „Keine Woche ohne Hirtenbrief“ von ihm, jeder „Anruf von einer Redaktion genügt, und er verlautbart“.

Die Charakterbilder von Kollegen wie Uwe Johnson, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch sind glänzende Miniaturen. Sein Bestes allerdings leistet Frisch in diesem Journal, wenn er nach Ostberlin reist und staunend in eine fremde Welt namens DDR gerät. Ihm imponieren jene Autoren, die wie Christa und Gerhard Wolf, Klaus Schlesinger, Volker Braun, Günter Kunert, Jurek Becker, Wolf Biermann an der DDR leiden, um ihre Verbesserung kämpfen und ihm in diesem Land der ängstlichen Bürokraten als die einzigen echten Kommunisten erscheinen. Andrerseits: Wie viel vergeudete Zeit, verkrümmtes Talent, zerstörtes Leben muss er beklagen, wenn er es mit unglücklichen Funktionären zu tun bekommt, die mit ihm tagelang verdruckst darum ringen, welche Passagen für eine Lizenzausgabe gestrichen werden müssen, weilder Klassenfeind sie falsch oder der ranghöhere Literaturpolizist sie richtig verstehen könnte!

Auch das ist das Berliner Journal – ein bereits 1973 verfasster Nekrolog auf die DDR,warmherzig und voller Sympathie, aber unbestechlich und mit klarem Blick dafür, dass dieses Land gerade von denen zerstört wurde, die sich für die treuen Wächter des Sozialismus hielten. ■

Max Frisch

Aus dem Berliner Journal

Hrsg. von Thomas Strässle. 236S., geb., €20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2014)

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