„Es fühlt sich leer an“

In Angelika Reitzers bilderstarkem Roman „Wir Erben“ sind Siri und Marianne befreundet. Lose nur – „doch sie hatten Augenblicke, die sich als recht haltbar erwiesen“. Sie leiden daran, dass man einem nicht entkommt: der Herkunft.

Als „Familienroman ohne Familie“ wurde Angelika Reitzers voriger Roman, „unter uns“ (2010), beworben. Nicht zu Unrecht, denn das vielstimmige Buch über prekäre Lebensverhältnisse handelte nicht nur vom langsamen Verschwinden materieller Sicherheiten zugunsten flüchtiger Projekte im heutigen Arbeitsleben, sondern auch von der Auflösung familiärer Muster. Nicht allein im Job, auch im Privaten wird das Dauerhafte durch ständig zu pflegende Netzwerke ersetzt. Sicherheiten? Fehlanzeige.

Dass man einem nur sehr schwer entkommt, und zwar seiner Herkunft – davon erzählt Reitzer in dem neuen Roman „Wir Erben“. Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste handelt von Marianne, einer mitten im Leben stehenden Alleinerzieherin und Betreiberin (= Erbin) eines Hauses und einer Baumschule in Niederösterreich. Marianne ist zwar Teil einer ziemlich weitverzweigten Familie, im Prinzip aber doch allein, wie der Leser bald feststellen wird. Ihrer Ortsgebundenheit stellt Reitzer im zweiten Teil die rastlose Heimatlosigkeit der immer wieder aufbrechenden und neu anfangenden Siri gegenüber. Deren Eltern konnten sich nicht zwischen Ost- und Westdeutschland entscheiden, sie selbst schwankt zwischen Jus- und Kunststudium, Teppichhandel und Leben auf dem Bauernhof.

Eines Abends in den 1990er-Jahren lernen sich Marianne und Siri zufällig im Wiener Konzerthaus kennen. Der Kontakt bleibt in der Folge auf lose Weise aufrecht. Genau darin macht Reitzer die Qualität der Beziehung fest: „Sie hatten keinen gemeinsamen Ort, sie hatten Augenblicke, die sich als sehr haltbar erwiesen. Was erstaunlich war, aber ein richtig gutes Gefühl auslöste. In Marianne, und vielleicht auch in Siri. War das schon genug? Sicher mehr, als man erwarten konnte.“

Diese paar Sätze könnte man als versteckte Poetologie lesen. Die Autorin misstraut Sicherheiten – etwa jenen, die eine brav auserzählte, lineare Geschichte bieten würden. Nicht alles, was einer Figur Reitzers in einem Romanleben zustößt, muss auch vor dem Leser ausgebreitet werden, dafür darf so mancher kurz aufgenommene Handlungsfaden auch gleich wieder fallen gelassen werden oder ins Leere führen. Angelika Reitzer schreibt realistische Literatur in dem Sinn, dass es im Leben eben oft unübersichtlich zugeht. Gern zieht sie wie eine Kamerafrau Details heran und verliert stellenweise das große Bild aus dem Auge.

Das macht dem Leser Arbeit. Besonders im ersten Teil fällt es schwer, sich zu orientieren. Reitzer schildert nicht nur den Alltag von Marianne auf dem ererbten Hof, im ererbten Leben. Sie lässt daneben zahlreiche Figuren vor ihrer Linse auftauchen – diverse Tanten mit ihren Kindern und deren zum Teil wechselnden Partnern, ehemalige Schulkollegen und andere Männer aus dem Dorf –, die man sich nur schwer einprägen kann. Manch eine verschwindet frustrierenderweise genau dann, wenn man es geschafft hat.

Am besten hält man sich an Marianne, deren Innenleben allein genug hergeben würde. Zum stärksten gehören jene Kapitel, in denen Reitzer ihre Koprotagonistin sich in rausch- und traumhaften Zuständen verlieren lässt. Marianne, das lässt sich nach dem einen oder anderen Filmriss nicht übersehen, hat ein Alkoholproblem. Sie scheint zwar im Alltag, der ihr durch die Leitung der gut laufenden Baumschule und den Lauf der Natur vorgegeben wird, zu funktionieren. Mit einiger Regelmäßigkeit klinkt sie sich jedoch auch aus dem Alltag aus.

Reitzer erklärt kaum etwas und scheut dankenswerterweise vor Küchenpsychologie zurück. Als Leser ist man natürlich trotzdem geneigt, Mariannes Trinkerei auf ihre Einsamkeit und ungestillte Sehnsucht zurückzuführen. Am Beginn des Buches stirbt ihre Großmutter, die über lange Jahre den Betrieb geführt hat. Mariannes Sohn macht sich nach Berlin auf. Und ihre Mutter, die man sich als alte Hippie-Tante vorstellen muss („Johanna war ein Thesenmensch, der sich etwas vornahm und das dann durchzog“ und befindet sich gerade auf Weltreise), bekommt sie nur alle heiligen Zeiten zu Gesicht.

Die Männerwelt bietet ebenfalls wenig Anlass zur Freude. Marianne hatte vor nicht allzu langer Zeit etwas mit einem Franzosen namens Eric, doch dieser ist wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Als sie ganz unten ist, erträumt sie sich Telefonate mit ihm. Auch das klischeehaft geschilderte Happy End für die beiden wirkt so, als würde es sich nur in Mariannes Kopf ereignen. Weitaus realistischer erscheint die Szene, in der sie sich in einem Akt der Verzweiflung einen alten Saufkopf aus dem Wirtshaus mit nach Hause nimmt. Dieser hat aber mehr Interesse an den gereichten Getränken als an ihrem Körper.

Männer sind auch in Siris Leben allenfalls Nebendarsteller. Sie hat mit sich selbst genug zu tun. Dass sich ihre Eltern mit ihr und der kleinen Schwester vor dem Mauerfall in den Westen abgesetzt haben, dann aber aus Perspektivlosigkeit wieder in den Osten zurückgekehrt sind, hat Siri geprägt. „Ihre Versuche, in einer neuen Umgebung Fuß zu fassen, wurden durch die Rasanz der Veränderungen ganz bodenlos“, heißt es über die Eltern, doch das gilt so auch für die Tochter, die nicht weiß, was sie aus ihrem Leben machen soll.

Auch in diesem zweiten Romanabschnitt,der geradliniger als der erste erzählt ist, geht es um das, was fehlt. Eine besonders schöne Sequenz ist jene, als Siris Familie in ihr Haus im Osten zurückkehrt. Die besseren Möbelstücke fehlen. Als man kurz darauf Freunde besuchen will, aber nicht eingelassen wird, klärt sich die Sache auf: „Drinnen, gleich beim Eingang, die kleine Kommode, auf der ihr Telefonapparat einmal gestanden war. Es war zu hören, wie die Schublade vorsichtig herausgezogen wurde, die Schiene klemmte, offenbar war Kerstin schon damit vertraut.“ Siris Eltern unternehmen nichts – aus Scham.

Während sie im wiedervereinigtenDeutschland trotz Anlaufschwierigkeitenletztlich Karriere machen – die Mutter im Spital, der Vater mit Computern –, fängt Siri vieles an, ohne etwas zu Ende zu bringen. „Das funktioniert für mich nicht als Geschichte“, wird sie einmal sagen. Und sich darauf berufen, dass sie nichts geerbt hat, weil sie ihre Familiengeschichte nur sehr lückenhaft kennt: „Es fühlt sich leer an, weil alle diese Orte, aus denen meine Mutter oder ihre Familie stammt, für mich nicht existierten.“

Und die Moral von der Geschicht'? Wird natürlich nicht mitgeliefert. Aber eine Deutung drängt sich auf. Ganz am Ende schleichen sich Siri und Marianne auf einer Party ein und lassen sich gehen: „Lautes Lachen, Kreischen. Tanzen. Yeah, yeah. Beats, Trompete, Tenorsaxofon.“ Auf „Wir Erben“ übertragen, würde das nahelegen, sich Reitzers Bildern auszuliefern, ohne ständig nach dem „Big Sinn“ (Rainald Goetz) zu fragen. ■

Angelika Reitzer

Wir Erben

Roman. 344 S., geb., €22,90 (Jung und Jung Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2014)

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