Leidenschaftlich mit leiser Stimme

Sein Theater wünschte er sich „ständig in Bewegung“. Gerard Mortiers „Dramaturgie einer Leidenschaft“ ist durch seinen Tod zum Vermächtnis geworden.

Wie auch immer man zum mit stets leiser Stimme leidenschaftlich für seine Ambitionen streitenden Gerard Mortier stehen mochte, dass er ein brillanter Verfechter seiner Ziele war, mussten selbst seine ärgsten Gegner zugeben. Auch dass es ihm gelungen war, nach Karajan bei den Salzburger Festspielen eine neue Ära zu begründen, die bis in die Zukunft ausstrahlt. Bereits 2009 und 2011 hat er in Essaysammlungen seine die Tätigkeit bestimmenden Gedanken publiziert. In Französisch, später in Spanisch. Jetztliegen die Essays aktualisiert und erweitert erstmals auf Deutsch vor, übersetzt vom Wiener Musikmanager Sven Hartberger.

Die Fertigstellung des Buches durfte Mortier noch erleben, für die Präsentation ließ ihm seine Krebserkrankung keine Zeit mehr. So ist es zu seinem Vermächtnis geworden. Ob noch weitere Kapitel geplant waren? Jedenfalls findet sich als Coda ein Beitrag, den Mortier bereits anlässlich des vergangenen Verdi-Jahres für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ verfasst hat. Darin setzt er sich mit Verdis politischer Sprengkraft und seiner vielfach schlampigen, an falschen Traditionen hängenden Rezeption perspektivisch auseinander und kommt zum Schluss, dass man seine Größe immer noch nicht verstanden habe.

Seine eigene Rolle definierte Mortier als jemand, „der versucht, den Zweifel im Geist des Menschen zu säen“. Ein Theater, das sich ans Historische heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muss nicht schockieren, aber es muss uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheiten, unserem Konformismus und in unseren Gefühlen, die sich nicht auf bloße Sentimentalität beschränken dürfen“, fasst Mortier sein Musiktheater-Credo zusammen, das er im Lauf seiner Karriere als Intendant an den Opernhäusern von Brüssel, Paris und Madrid, der Salzburger Festspiele und der Ruhr-Triennale entwickelt hat, und in der er seinen Traum von maßgeschneiderten Spielorten für seine Produktionen am intensivsten ausleben konnte.

Was er damit konkret meint, macht er schon im Vorwort deutlich, wenn er die für ihn – ausgenommen die Opernhäuser von Frankfurt, Lyon, Stuttgart und die English National Opera – gegenwärtig restaurative Musiktheaterlandschaft geißelt und deren Managern vorwirft, ihnen gehe es primär um Finanzen und optimale Kommunikation. Dies seien aber die Mittel. Ziel sei es, aus dem Alltag auszubrechen, alles zu hinterfragen, sich den „Fragen des menschlichen Daseins“ zu widmen.

Theatermachen, so zeigt sich der einstige Student des Jesuitenkollegs in seiner Heimatstadt Gent überzeugt, ist „eine Sendung, ein priesterliches Amt beinahe“, Theater „eine Religion des Menschlichen“. Ein grundsätzlicher Standort, der auch die übrigen sprachlich brillanten Aufsätze dieses Buches durchzieht, das wieder einmal beweist, dass gedankliche Dichte sich nicht zwangsläufig in einem großen Umfang dokumentieren muss. Denn Mortier genügen einige wenige Seiten, um die Bedeutung Monteverdis bis in die Gegenwart packend zu schildern. Ebenso wenige, um das Vorbildhafte der griechischen Spielstätten für die großen Theaterbauten packend in Erinnerung zu rufen.

In seinem Beitrag über Spielplangestaltung plädiert er höchst kenntnisreich für thematische Zusammenhänge, belegt seine Ausführungen mit Beispielen. Zum Thema Werktreue spricht er sich für eine differenzierte Einzelbetrachtung der jeweiligen Stücke aus. Tradition sieht er als „das Feststellende, nicht das Feststehende“. Man müsse somit stets nach neuen Regeln suchen, die geeignet sind, die „Zukunft produktiv zu gestalten“. In „Dramaturgie der Kommunikation“ geht er mit dem Kommerz ins Gericht und versucht, das Phänomen Karajan aus dessen Zeit zu erklären. Begeistert wirft er sich für Uraufführungen ins Zeug, lässt keinen Zweifel, dass sich Außerordentliches nur im intensiven Kontakt mit gleich innovatorisch interessierten Künstlern entwickeln lässt. „Theater muss ständig in Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist“, formuliert Mortier zum Schluss. Besser ließe sich auch seine von umtriebiger Leidenschaft bestimmte Arbeit nicht charakterisieren. ■

Gerard Mortier

Dramaturgie einer Leidenschaft

Für ein Theater als Religion des Menschlichen. Aus dem Französischen von Sven Hartberger. 126 S., geb., € 25, 70 (Bärenreiter Verlag, Kassel / J. B. Metzler Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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