Lernen, mit den Lücken zu leben

Romane en miniature: Alice Munros „letzte“, essenzielle Erzählungen „Liebes Leben“.

Liebes Leben“ ist das letzte Buch Alice Munros. Zumindest behauptet sie das. Müssen wir ihr Glauben schenken? Es ist zu befürchten. Keines ihrer bisherigen Bücher enthält so viel Autobiografisches wie dieses. Die letzten vier Erzählungen, in denen die „Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“ – so das Urteil des Nobelpreiskomitees, das Munro für ihr Lebenswerk ausgezeichnet hat – ihre Kindheitserinnerungen zu Papier bringt, sind unter dem Titel „Finale“ zusammengefasst.

Von einer übermächtigen Mutter ist hier die Rede, die Munros Gefühlswelt überlagert hat: „Bis zur Ankunft vom ersten Baby war mir noch nie bewusst geworden, dass ich mich anders fühlte, als meine Mutter behauptete.“ Und von einem Vater, „der nicht viel zu sagen hatte“, sich jedoch, wenn er einmal das Wort ergriff, als durchaus richtungweisend erwiesen hat: „Tatsächlich funktionierte das, was er tat. Es holte mich, und das ohne Spott und Aufregung, herunter in die Welt, in der wir lebten.“

Der späte Lebensrückblick mündet in einem etwas bitteren, wenngleich auch realistischem Resümee: Kein Leben kommt ohne Kompromisse aus. „Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind oder dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.“ Jenes Resümee ist es auch, dass sich ohne Weiteres als der Grundtenor sämtlicher Erzählungen dieses wohl letzten Bandes ausmachen lässt.

Weitermachen bis zum Ende

Munros Protagonisten üben sich in der Kunst, sich mit all dem, das sie nicht zum Leben gebracht haben, mit all dem, das unausgesprochen geblieben ist, abzufinden und weiterzumachen, weiter bis zum bitteren Ende. Oft ist es „zu spät, um etwasanderes zu tun. Denn es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer“ (Corrie). So lernen sie eben, das Nichtgelebte in ihr Dasein zu integrieren, sie lernen gewissermaßen, mit den Lücken zu leben. So ist das Leben eben. „Wichtig ist nur, glücklich zu sein. Alles andere ist egal. Das musst du versuchen. Du kannst es. Es wird immer leichter“, lässt Munro eine ihrer Figuren sagen (Kies).

Diese Erzählungen sind keine Momentaufnahmen, sie sind vielmehr so etwas wie Romane en miniature. Auf circa 30 Seiten werden jeweils ganze Biografien entwickelt. Munros Kurzgeschichten sind Lebensgeschichten, in denen jeweils die Essenz eines Daseins in Vor- und Rückblenden, die sich nicht immer ohne Weiteres chronologisch, jedoch gut nachvollziehbar in das Ganze fügen, montiert wird. Oft sind sie in das Kolorit des Provinziellen getaucht, denn zumeist spielen sie auf der Bühne der kanadischen Provinz, die die Autorin wohl selbstselten verlassen hat. All das, was jedoch dort im Kleinen, im Unspektakulären vor sich geht, erlangt insofern Allgemeingültigkeit, als es durch und durch menschlich ist.

„An Liebe ändert sich nie etwas“(Amundsen) – am Leben auch nicht. Das Leben ist nicht anderswo, es ist genau dort, wo wir es jeweils in seiner ganzen Tragik und Absurdität zu fassen kriegen – vorausgesetzt natürlich, man hat die Sensoren, es in all seinen Spielarten wahrzunehmen, und die Sprache, um es dann auch darzustellen. Über beides verfügt Munro. Heidi Zerning hat Munros letzte Erzählungen nun in eindrucksvoller Weise ins Deutsche übersetzt. ■

Alice Munro

Liebes Leben

14 Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. 368S., geb., €22,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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