„Bin des trocknen Tons nun satt“

„Das Mondschaf“, „Fisches Nachtgesang“ und etliche andere in die Populärkultur eingegangene sprachliche Erfindungen: Dafür steht Christian Morgenstern. Der Dichter der „Galgenlieder“ war aber auch ein sprachlicher Modernist und Kulturkritiker. Zum 100. Todestag: Neuentdeckung eines allzu Bekannten.

Blödem Volke unverständlich
treiben wir des Lebens Spiel.
Gerade das, was unabwendlich,
fruchtet unserm Spott als Ziel.


Magst es Kinder-Rache nennen
an des Daseins tiefem Ernst;
wirst das Leben besser kennen,
wenn du uns verstehen lernst.


„Rabenaas“ nennt sich der Verfasser dieser Verse. Und „Galgenberg“ heißt das Gedicht. Beides ist programmatisch. 70 Meter erhebt sich der Galgenberg über das nahe Potsdam gelegene Örtchen Werder. Einst Richtstätte, lockte die Anhöhe anno 1895 Ausflügler aus Berlin an. So auch eine Gruppe junger Künstler, die sich dort zum Galgenbund zusammenschließen und in der Folge als Galgenbrüder ihr künstlerisches Unwesen treiben. Alle tragen Spitznamen: Schuhu und Verreckerle heißen die Brüder Julius und Georg Hirschfeld, Veitstanz oder der Glöckner nennt sich Franz Schäfer, Gurgeljochem ist Friedrich Kayssler, Spinna, das Gespenst, heißt mit bürgerlichem Namen Paul Körner, der stumme Hannes oder der Büchner wird Fritz Beblo gerufen, Faherüggh, mit dem Beinamen der Unselm, ist Robert Wernicke. Und derjenige, der dem Ulk die Sprache, meist in Form von Versen, verleiht, nennt sich eben Rabenaas und heißt Christian Morgenstern.

Zehn Jahre später werden die „Galgenlieder“ ihren Autor berühmt machen. Nicht weil es sich um studentische Unsinnspoesie handelt, sondern um moderne Lyrik mit sprachphilosophischem Hintergrund. Etliche Gedichte dieser Anthologie, bestehend aus den Abteilungen „Palmström“, „Palma Kunkel“ und „Der Gingganz“, sind längst in den Volksmund eingegangen. Wer kennt zum Beispiel nicht das berühmte „Möwenlied“, das mit den Zeilen beginnt: „Die Möwen sehen alle aus, / als ob sie Emma hießen“. Oder das einzigartige Mondschaf, das einmal verrät, warum das Wiesel auf einem Kiesel saß und ein andermal auf weiter Flur harrt und harrt der großen Schur. Wer solche Verse nur für gehobene Blödelei hält, hat den Ernst, die Melancholie, aber auch die Subversion dieser Lyrik nicht erkannt. „Die Galgenpoesie“, so ihr Verfasser, „ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht.“ Diese Freiheit musste sich Morgenstern hart erkämpfen.

Leicht hatte es der als Sohn eines Landschaftsmalers am 6.Mai 1871 Geborene nicht. Er ist noch keine zehn Jahre alt, als seine Mutter an Tuberkulose stirbt. Ein Dutzend Jahre später wird er selbst lungenkrank. Mit dem Tod der Mutter beginnt das Wanderleben Morgensterns, das ihn zeitlebens selten mehr als ein paar Monate an ein und demselben Ort verweilen ließ. Zuerst muss der zehnjährige Christian von Oberbayern nach Hamburg ziehen, weil ihn der Vater nach seiner Wiederverheiratung in Pflege gibt; kein Jahr danach schickt er ihn in die Lateinschule in Landshut. Etwas ruhiger geht's zu, als Carl Ernst Morgenstern an die Kunstgewerbeschule in Breslau berufen wird und seinen Sohn im dortigen Gymnasium unterbringt. Welche Überlegung dahinterstand, den kunstsinnigen Knaben 1889 in eine Militärschule zu stecken, ist ungewiss. In einem Brief an seine Großmutter schreibt der 19-Jährige jedenfalls: „Meine Neigung zum Soldatenstand war nie eine tiefe, echte. Mich hält die Poesie, die Kunst, der Drang nach Wahrheit zu sehr in ihrem Bann.“

Studiert Nationalökonomie

Zur Poesie fühlt sich der junge Mann also hingezogen. Noch einmal versucht er, den Wünschen des Vaters zu entsprechen und schreibt sich in die Breslauer Universität für das Studium der Rechte und Nationalökonomie ein, obwohl er schon weiß, dass „der stolze Schwung der Fantasie – der kann hier nicht gedeihen“. Auch seine Geburtsstadt München, in der er noch ein studentisches Intermezzo gibt, hält ihn nicht lange.

Im Frühjahr 1894 übersiedelt er in die Reichshauptstadt Berlin, beginnt Kunstgeschichte zu studieren und in der Nationalgalerie zu arbeiten. Mit der Unterstützung des Vaters kann er nicht mehr rechnen, da der gerade zum dritten Mal heiratet. Deshalb fühlt sich der junge Mann endlich frei, sich seinem „wirklichen und einzigen Lebensberufe, dem Schriftstellerberufe mit ungeteilter Kraft zuzuwenden“. Noch aus München hat er etwa Maximilian Harden, der die Zeitschrift „Die Zukunft“ gegründet hatte, Gedichte geschickt. Die blieben zwar ungedruckt, aber er erhält aufmunternde Worte.

Es folgt das Jahrzehnt der „Galgenlieder“, die in verschiedenen Ausgaben den Fortgang des Unternehmens widerspiegeln. Inzwischen weiß er, was er poetologisch will oder vor allem nicht will, nämlich „keine Gedichte mehr, die nur um des Wohlklangs willen gebaut, die nur im Sinne eines gewissen akademischen Schönheitsideals empfunden waren“. Morgenstern, und das hat sein Biograf Jochen Schimmang gut erkannt, changiert „zwischen dem kritischen (sprachkritischen) Geist der Moderne und den zeitgleichen Ängsten vor ebendieser Moderne“. Nicht die dümmste Haltung eines Geistesmenschen in dieser Zeit. Diese (an Nietzsche geschulte) Skepsis zeigt sich etwa im Gedicht „(Nichts vielleicht erklärlich)“: „Menschen stehn vor einem Haus, – / nein, nicht Menschen, – Bäume. / Menschen, folgert Otto draus, / sind drum nichts als – Träume. // Alles ist vielleicht nicht klar, / nichts vielleicht erklärlich, / und somit, was ist, wird, war, / schlimmstenfalls entbehrlich.“

Kritisch erweist sich Morgenstern gegenüber so mancher Errungenschaft der Moderne, etwa der modernen Architektur: „Es war einmal ein Lattenzaun, / mit Zwischenraum, hindurchzuschauen. // Ein Architekt, der dieses sah, / stand eines Abends plötzlich da – // und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus. // Der Zaun indessen stand ganz dumm, / mit Latten ohne was herum.“ Dass der Architekt zuletzt entfloh, nach Afri- od- Ameriko, ist nur noch Draufgabe zu dieser gereimten Architekturkritik. Auf der anderen Seite war Morgenstern jedoch ein großer Neuerer.

Man muss dabei gar nicht an das – nach seiner eigenen, augenzwinkernden Aussage – „tiefste deutsche Gedicht“ erinnern, nämlich „Fisches Nachtgesang“, das die Konkrete Poesie vorwegnimmt, oder an „Das große Lalulā“, das von den Dadaisten als bahnbrechend erkannt und rezitiert worden ist: „Kroklokwafzi? Semememi! / Seiokronto – prafriplo: / Bifzi, bafzi; hulalemi; / quasti basti bo ? / Lalu lalu lalu lalu la!“ Es genügt, die ganz altmodisch in einfacher Metrik und Kreuzreim verfassten Gedichte zu analysieren. Schon an denen ist zu erkennen, wie modern Morgenstern war, in seiner Kunst, wie Schimmang zu Recht feststellt, mitunter fortschrittlicher als in seiner Weltanschauung. Kaum je zuvor wurden Alltagsgegenstände zu Objekten lyrisch-philosophischer Betrachtungen wie zum Beispiel im „Lied vom blonden Korken“: „Ein blonder Korken spiegelt sich / in einem Lacktablett – / allein er säh sich dennoch nich, / selbst wenn er Augen hätt! // Das macht, dieweil er senkrecht steigt / zu seinem Spiegelbild! / Wenn man ihn freilich seitwärts neigt, / zerfällt, was oben gilt.“ Unverwechselbar ist er mit seinen zahlreichen sprachlichen Erfindungen. Wo sonst findet man einen so riesigen Zoo an seltenen Tieren, neben dem bekannten Mondschaf etwa auch das Nasobēm, den Steinochs, das Löwenreh, den Sündenfloh, den Glockenwurm, den Dreiachtelhasen, den Mondberg-Uhu, das Geierlamm und manch anderes Getier.

Überhaupt hatte es ihm die Fauna angetan, denn ein nicht unbeträchtlicher Teil der Galgenlieder sind Tiergedichte. In ebendiese ließ sich seine Kulturkritik trefflich verpacken: „Ein Fisch schrieb jüngst in seinem Blatt: / ,Ich bin des trocknen Tons nun satt. / Ich will (als einer nur von vielen) / zwei Hände, um Klavier zu spielen‘... Das Blatt verließ die Druckerei. / Der Hering las es wie der Hai. / Fast jeder bis hinauf zum Wal / empfand den Einfall als Skandal.“ Oft kommen seine subversiven Verse ganz harmlos daher und haben es doch faustdick hinter dem Reim. Gewitzter hätte Morgenstern seine Kritik am wilhelminischen Militarismus wohl kaum in Verse kleiden können: „Im Kriege ward einmal ein Mann / erschossen um und um. / Das Knie allein blieb unverletzt – / als wärs ein Heiligtum. // Seitdem geht's einsam durch die Welt. / Es ist ein Knie, sonst nichts. / Es ist kein Baum, es ist kein Zelt. / Es ist ein Knie, sonst nichts.“

Die erste Ausgabe der Galgenlieder erschien 1905, wurde einigermaßen freundlich rezipiert, in ihrer Innovationskraft jedoch nicht annähernd erkannt; zumal von der „Neuen Freien Presse“, die resümierte: „Das Publikum, das sich solche Wassersuppe bieten lässt, verdient es.“ Verständiger Hermann Hesse, der schrieb: „Hier erscheint der Sprachgeist als souveräner Schöpfer, dem die Dinge sich fügen müssen.“

Bei Erscheinen der um den „Gingganz“ ergänzten Ausgabe von 1910 war Morgenstern bereits ein todkranker Mann. Noch bevor er nach Berlin wechselte, im Sommer 1893, klagte er über einen Bronchialkatarrh. Das Lungenleiden hat ihn seither nie mehr verlassen und sein Leben hinfort bestimmt, nicht zuletzt dadurch, dass es zahlreiche Aufenthalte in den Alpen nötig machte. An einem dieser Luftkurorte in Südtirol lernt er im Sommer 1908 Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennen. „Sie zelebrierten zusammen Zigeunerpicknicks, saßen abends über Schachpartien und sprachen über Goethe und Tolstoi,“ berichtet der Biograf Ernst Kretschmer. Die Tochter einer Generalswitwe wird Morgensterns letzte Jahre prägen, nicht nur als seine Frau, sondern auch als Anthroposophin.

Wird zum Anhänger Rudolf Steiners

Am 28. Jänner 1909 hören sie zum ersten Mal gemeinsam einen Vortrag Rudolf Steiners über „Tolstoi und Carnegie“. Morgenstern ist begeistert. Er wird noch im selben Jahr Mitglied der „Theosophischen Gesellschaft“ und hört in den restlichen fünf Lebensjahren noch einige Reden Steiners. Seinem Künstlertum, da hat Schimmang wohl recht, hat diese Anhängerschaft nicht gutgetan. Vielleicht aber hat sie ihm das zunehmend von seiner Krankheit gezeichnete Leben erleichtert. Dieser Art von Leben gegen den Tod gegenüber erweist sich sein Biograf ungnädig, wenn er meint, den Dichter vor dem Steiner-Schüler in Schutz nehmen zu müssen. Wieso aber sollte seine Hinwendung zur Anthroposophie der Kritik an Wahrheitsansprüchen, wie sie Morgenstern in den „Galgenliedern“ vorgenommen hat, etwas wegnehmen?

Er selbst hat in einer Notiz eine Anleitung gegeben, wie sein Leben zu lesen sei: „Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben oder getan. Isst man denn an einem Apfel auch alles mit: die Kerne, das Kerngehäuse, die Schale, den Stängel? Also lernt auch mich essen und schlingt mich nicht hinunter. Lasst mein allzu vergänglich Teil ruhen und zerfallen.“

Als Lebensleistung bleiben werden aber die „Galgenlieder“, die jetzt in einer mustergültigen und von Hans Ticha fein illustrierten Ausgabe neu aufgelegt worden sind. Ein Hausbuch, das in keinem Haushalt fehlen sollte, der literarisch etwas auf sich hält. ■

Jochen Schimmang

Christian Morgenstern

Eine Biografie. 272S., geb., €24,90
(Residenz Verlag, St. Pölten)

Christian Morgenstern

Alle Galgenlieder

Mit 63 farbigen Illustrationen von Hans Ticha. 368 S., Hln., €28,80 (Edition Büchergilde, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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