1000 Seiten zum Schwärmen: Donna Tartts „Distelfink“

Donna Tartt hat mit dem Roman „Der Distelfink“ ein Buch verfasst, bei dem es schwer ist, nicht ins Schwärmen zu geraten. Ein kleiner Hinweis: Tom Sawyer und Huck Finn heißen hier Theo und Boris.

Ich werde jetzt versuchen, Ihnen zu sagen, dass Sie dieses Buch unbedingt lesen sollten. Ihnen zuliebe. Sie werden mir dankbar sein. Einfach, weil es ein toller und sehr zeitgenössischer Roman ist. Als ich das letzte Mal umgezogen bin, schien mir das eine gute Gelegenheit, mich von ein paar überflüssigen Büchern zu trennen und so Platz für neue zu schaffen. Am Ende war es ein einziges Buch, das ich nicht mehr haben wollte, obwohl ich es nie gelesen hatte: Es war ein Krimi, und es war aus dem Goldmann Verlag, einem Verlag, dem ich auch später nicht zutraute, auch nur ein Buch zu verlegen, das mich interessieren könnte. Noch bis vor Kurzem habe ich das gedacht, obwohl ich längst wusste, dass das auch der Verlag für Paul Bowles ist. Als ich daher vor ein paar Wochen die erste Empfehlung für Donna Tartts „Der Distelfink“ las, war ich äußerst skeptisch.

Die Skepsis verstärkte sich noch dadurch, dass es sich hier um einen Tausendseiter handelt. Zwar war ich nie der Ansicht von Marcel Reich-Ranicki, der einen damit nerven konnte, dass er bei jeder Gelegenheit tönte, es sei heute niemand mehr imstande, einen Roman zu schreiben, der mehr als 400 Seiten hat. Hinzu kam, dass ich mich seit ein paar Monaten ein zweites Mal auf die wahrlich umfangreiche „Suche nach der verlorenen Zeit“ eingelassen und gerade den dritten Band hinter mir habe. Die Proust-Bände, das ist meine beglückte Erfahrung, können einen süchtig machen, ihr Reichtum an Empfindungen, Bildern und Szenen, die jeder kennt, auch wenn er nichts mit dem französischen Hochadel am Barett hat, zeigt einem wie kaum ein zweites grundsätzliches Werk der Literatur des 20. Jahrhunderts, was die Sprache im Umgang mit unserer komplexen Seele zu zeigen vermag. Die Beweglichkeit von Prousts Sprache ist unglaublich. Übrigens kann man ihn verhältnismäßig rasch lesen, es ist keine schwierige Lektüre, und sie lehrt einen lesen, den Text und sich selbst. Verständlich also, dass man am liebsten gleich zum nächsten Band greifen würde; ich dachte aber, mir etwas ganz anderes verordnen zu sollen, und warum nicht einen US-amerikanischen „Schinken“, der mir schon nach kurzer Zeit diverse Vorurteile bestätigen würde. Der professionelle Leser liebt auch so etwas.

Ich fing also an, Donna Tartt zu lesen, und konnte das Buch schon am ersten Abend kaum aus der Hand legen. Der Grund:Jeder Satz dieser Autorin vibriert vor Leben, man fasst es kaum, wie viel Mitteilung selbst in scheinbar belanglosen Szenen weitergegeben wird; Tartts Art zu erzählen ist ungemein reich an Tönen, Wahrnehmungen und Empfindungen, wie eine Proust von heute. Man hat hier – wie bei allen großen Erzählungen – den Eindruck, dass einem anhand einer Geschichte die ganze Fülle des Daseins geboten wird, man spürt Sinn und Zusammenhang und reagiert mit Vertrauen.

Die Geschichte beginnt mit einem Besuch des 13-jährigen Theodore Decker in einem New Yorker Museum, das, nach den nahen Straßennamen zu urteilen, das Metropolitan sein muss. Theo ist dort mit seiner geliebten Mutter, die ihm früher schon die Freude an der Kunst vermittelt hat. Plötzlich zerstört eine gewaltige Explosion Teile des Museums, ein Anschlag, der nicht geklärt wird, die Mutter ist eines der Opfer, und in den folgenden Wirren nimmt Theo ein kleines Bild an sich, das Gemälde eines Distelfinks des Rembrandtschülers Carel Fabritius, das normalerweise im Mauritshuis hängt, und schleicht sich damit aus dem Museum.

Von nun an beginnt eine Odyssee des Bildes und des Jungen, der erst von einer feinen New Yorker Familie aufgenommen wird und sich dort mit dem gleichaltrigen Sohn anfreundet, mit dessen Schwester ihn am Ende eine nüchterne Liebesbeziehung verbindet. Bis eines Tages sein Vater auftaucht, der die Mutter schon vor Längerem verlassen hatte und der den Sohn zu sich nach Las Vegas holt, wo der Vater sein Geld an Spieltischen verdient. In der Schule, die es dort immerhin gibt, macht Theo die Bekanntschaft eines jungen Russen, Boris, der vielleicht auch Ukrainer ist und mit dem er von nun an sein Leben teilt. Gemeinsam lernen die beiden das Saufen, Rauchen und Kiffen bis hin auch zu harten Drogen; sie sind unzertrennlich wie einstmals Tom Sawyer und Huck Finn, mit denen sie auch eine besondere Spielart der Unschuld gemeinsam haben. Und auch als Theos Vater bei einem Autounfall stirbt (etwa ein Dutzend der einem in diesem Buch nahegebrachten Figuren erlebt das Ende des Romans nicht) und Theo zurückgeht nach New York, wo er im Haus eines Antiquitätenhändlers und Möbelrestaurators die Liebe seines Lebens trifft, die er später nicht kriegt, taucht Boris – wie es sich für die Logik eines Romans gehört – in dringenden Momenten von Theos brüchiger Existenz immer wieder helfend auf. Er ist auch der einzige, der dessen großes Geheimnis teilt, den Besitz des außerordentlichenGemäldes, das Theo immer mit sich genommen, irgendwo versteckt und nie der Kunstwelt zurückgegeben hat.

In diesem zarten Vogel schlägt für den Jungen das Herz seiner Welt, die der Leser längst mit ihm teilt, und als es anfängt, gefährlich für Theo zu werden, da ist es Boris, der gegen Ende, als jemand dem Dieb auf die Schliche gekommen und die Geschichte bereits ein rasanter Thriller geworden ist und den Schauplatz New York mit Amsterdam vertauscht hat, alles zum (beinahe) Guten wendet. Die beiden (inzwischen) jungen Männer, immer noch ständig unter Alkohol und Drogen, als wär es das Selbstverständlichste auf der Welt, verbindet das Verhältnis einer brüderlichen Freundschaft, die eine Art von Abhängigkeit spürbar macht, die die Intensität des Tragischen hat.

Man merkt, dass Donna Tartt einem ein Gefühl des Unausweichlichen im Leben vermitteln will, und das Schöne ist, dass man am Ende, wenn man sich der Autorin bereits vollständig ausgeliefert hat, auch noch ein paar herrliche Seiten bekommt, auf denen einem das Drama der Existenz und die Notwendigkeit von Kunst als etwas geschildert wird, an dem man unbedingt teilnehmen möchte. Und falls man sich selbst schon einmal gefragt hat, warum man ein Kunstwerk liebt, dann auf keinen Fall, „weil es zur ganzen Menschheit spricht. Aus diesen Gründen liebt niemand ein Kunstwerk. Es ist ein heimliches Wispern aus einer schmalen Gasse. Pst, du da. Hey, Junge. Ja, du.“ Genauso kann es einem mit diesem Buch ergehen, das im Übrigen keine Seite zu lang geraten ist.

Es ist ein grandioser Roman, denn er hat die intelligente Feinheit von Proust, das Abgründige von Poe, das Lebensvertrauen eines Mark Twain, die nicht nur kriminalistische Spannung und die Moral eines Chandler und vor allem die unfassbare Fähigkeit einer Donna Tartt, das alles so zusammenzubringen, als wäre es das Leichteste auf der Welt. ■

Donna Tartt

Der Distelfink

Roman. Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt und Kristian Lutze. 1024S., geb., €25,70 (Goldmann Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.