Von Sprachen und Schimären

Eine Art Summa: die „kleine Prosa“ von Karl-Markus Gauß.

Man rezensiert nicht gern das Buch eines Mannes, der mit seinen eigenen Literaturkritiken die Gattung im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte mit geschliffenen Formulierungen bereichert und stilistisch geprägt hat. Schreibt derjenige auch noch ein „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“, wird man vollends mutlos. Warum man sich trotzdem die Blöße gibt? Weil man nicht allein sein möchte mit seiner Begeisterung für die hier versammelte „kleine Prosa“.

Anlässlich der Verleihung des Merck-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hielt Karl-Markus Gauß in Darmstadt eine Rede, die den vorliegenden Band beendet. Darin berichtet er von einer Litauerin, die alsTochter deutscher Eltern geboren worden war. Nach dem Tod ihrer Mutter fand die Fünfjährige am Ende des Krieges Aufnahme bei einer litauischen Familie. Das Trauma der Flucht ließ das Mädchen ihre ursprüngliche Sprache völlig vergessen, bissie als 40-Jährige in einem Schaufenster eine hölzerne Figur entdeckt und plötzlich „Hampelmann“ denkt. Danach begann sie ihre – im wahrsten Sinn des Wortes – Muttersprache neu zu lernen.

An diese Geschichte knüpft Gauß seine Überlegungen zu den sprachlichen Minderheiten, die „beides zuwege bringen: das Eigene zu behaupten und doch zugleich Anteil zu haben an zwei, drei, an mehreren Nationalitäten, Sprachen, Kulturen“. Die randständigen Europäer, denen Gauß' besondere Zuneigung gilt, definieren ihre Zugehörigkeit über die Sprache, nicht über die Schimäre einer Nationalität. Ganz anders als etwa die Besitzer von Ferienwohnungen auf Mallorca.

Einer davon berichtet Gauß im nachbarschaftlichen Austausch davon, dass er dieses Quartier wieder aufgeben werde: zu viele Ausländer. Das konnte Gauß nachvollziehen. Warum soll man sich auf einer spanischen Insel ständig mit Duisburgern oder Kasselern herumschlagen? Tatsächlich gemeint war allerdings, dass neuerdings viele Rumänen, Ukrainer und sogar Afrikaner dort arbeiteten. Der zeitgemäße Begriff des Ausländers, so schließtGauß daraus, „hängt ja nicht mehr von Nationalität oder Staatsbürgerschaft ab, sondern vom Bankkonto“.

Österreichische Feuilletontradition

Solcherart lassen sich viele Querverbindungen zwischen diesen Texten herstellen. Wie sehr Gauß in der Feuilletontradition der österreichischen Literatur eines Alfred Polar oder Joseph Roth wurzelt, ist besonders deutlich an der Glosse über „Zweierlei Fundamentalisten“ zu erkennen. Sie beginnt mit einer Charakterologie des „gemeinen“ Fundamentalisten, die an Canettis Band „Der Ohrenzeuge“ denken lässt, um dann in eine Polemik à la Karl Kraus gegen den Generaldirektor des Lebensmittelkonzerns Nestlé zu münden, der „mit flammendem Pathos predigte“, „dass die Armen der Welt erst dann nicht mehr dürsten werden, wenn der letzte Tropfen Wasser auf Erden“ privatisiert wäre. Diese Passage wiederum korrespondiert mit einer Glosse, in der Gauß direkt auf Canettis Charakterkunde Bezug nimmt und über seinen Freund, den „Eigentlich-Sager“, erzählt, dass es für ihn „eigentlich ein Skandal“ sei, dass Konzerne ihren Aktionären (und Managern per Boni) die fettesten Gewinne auszahlen und dennoch ein paar Hundert Menschen entlassen.

Und so liest man diesen Band, der verstreut in verschiedenen Publikationen erschienene Texte von Karl-Markus Gauß aus den vergangenen 20 Jahren enthält, als eine Art Summa seines Werks und genießt all die stilistischen Tugenden, die auch seine Rezensionen enthalten. ■

Karl-Markus Gauß

Lob der Sprache, Glück des Schreibens

176S., geb., €19 (Otto Müller Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2014)

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