Der Kurier des Widerstands

Drei Biografien in einer: Marta Kijowska über Jan Karski. So unglaublich es auch klingt: Auch der Holocaust musste erst einmal nachgewiesen werden. Der Mann, dem das gelang, war Jan Karski.

So unglaublich es auch klingt: Auch der Holocaust musste erst einmal nachgewiesen werden. Der Mann, dem das gelang, war Jan Karski. 1942 schleust sich ein polnischer Offizier, verkleidet als Wärter, in ein KZ und erlebt mit eigenen Augen die systematische Auslöschung des jüdischen Volkes. Wenig später schmuggelt er sich durch einen Tunnel in das Warschauer Ghetto, um ein ähnliches Bild des Grauens mitzuerleben. Er sammelt Beweise und Augenzeugenberichte. Dann schlägt er sich zu den Alliierten durch, wo die wirklich große Überraschung auf ihn wartet: Präsident Roosevelt zeigt sich von den detaillierten Berichten beeindruckt, ebenso Churchill, aber das war's auch schon. Man glaubt ihm nicht, oder – noch schlimmer – man will es nicht glauben. Karski ist verblüfft, enttäuscht und zuletzt entsetzt.

Von der Erkenntnis getrieben, dass Gerechtigkeit nicht in Gesetzbüchern, sondern nur in Menschen, und das auch nur wenigen, lebendig werden kann, wird der „bekannteste Kurier des polnischen Widerstands“ zum Mann der Tat. Ausgestattet mit einem geradezu fotografischen Gedächtnis wird er zum Überbringer geheimer Nachrichten an die Alliierten, die großen Einfluss auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs haben.

Aber er reist nicht nur, er rettet auch Leben, verliert beinahe sein eigenes, in letzter Minute vom späteren polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz aus der Gestapohaft befreit. Und er erzählt, wo immer er auch ist, und man hört ihm zu. Wovon Schriftsteller träumen, gelingt ihm so selbstverständlich, wie es nur einem gelingen kann, der alles mit eigenen Augen gesehen hat. Er berichtet von den Toten, indem er sogar ihre Stimmen und Gesten nachahmt.

Noch als alter Mann versetzt er sich in den Geist jener, die schon längst zu Staub zerfallen sind, und verschafft ihnen eine bizarre Lebendigkeit. Alle, die ihn persönlich kannten, und das waren viele, waren von Karskis Menschendarstellung beeindruckt. „Sein Leben war ein Meisterstück an Mut, Integrität und Humanismus“, wird später Elie Wiesel behaupten.

In seiner Heimat, Polen, wird Karski „Held der Menschheit“ genannt. Diese Bewunderung und dieses Pathos haben ihren guten Grund. Karskis Schicksal war es nicht nur, die Nazizeit mitzuerleben, sondern auch die Annektierung seiner Heimat durch die Sowjets. Er hat alles überlebt und in seinem Gedächtnis gespeichert, um uns davon zu berichten.

Unbeugsamer Charakter

Das muss Marta Kijowska klar gewesen sein. In ihrer anlässlich des 100.Geburtstags von Karski (24.April) erschienenen Biografie legt sie ihr Augenmerk auf seinen unbeugsamen Charakter und seine exemplarische Lebensgeschichte. Sie recherchierte genau, ohne den Leser in überbordende Details zu verstricken. Sie dosiert gut zwischen Information und Intuition. Am Ende bekommt man das Gefühl, mehr als nur eine Biografie gelesen zu haben: über den Humanisten Jan Karski, den mutigen Agenten, und eine Zeit, die so tragisch wie interessant war.

Man weiß auf einmal erstaunlich viel von der Mentalität der damaligen Opfer und sogar der Täter. Das Buch ist so lebendig, dass man sogar den Flieder riechen kann, der in den 1930ern auf den Warschauer Straßen geblüht hat und unter denen elegante Damen flaniert sind.

All das schafft Kijowska, weil sie ebenso beharrlich wie der Held ihrer Biografie einem edlen Prinzip gefolgt ist: „Jemand, der so viele Leben gerettet hat, muss auch um jeden Preis vor dem Vergessen gerettet werden.“ ■

Marta Kijowska

Kurier der Erinnerung

Das Leben des Jan Karski. 382S., geb., viele Abb., €25,70 (C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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