Williams wahres Selbst

Shakespeare ist nicht zu fassen. Dennoch versuchen es Biografen und Exegeten seiner Werke jeden Tag aufs Neue. Auch zum 450. Geburtstag mangelt es nicht an interessanten neuen Büchern über den Mann aus Stratford-upon-Avon. Fünf leicht lesbare von ihnen werden hier kurz besprochen.

Im Schnitt erscheint in unserem Zeitalter der Überinformation jeden Tag ein Buch über den englischen Dichter William Shakespeare. Das Erlebnis der Aufführung seiner genialen Stücke wird durch diese Lektüre nicht ersetzt, aber welche Novitäten soll man denn wenigstens als Einstimmung zu seinem 450.Geburtstag lesen? Traditionell wird er am 23.April gefeiert – just am Festtag des wehrhaften heiligen Georg, den die Landsleute des Bürgersohnes aus Stratford-upon-Avon als Patron verehren. Wer vermittelt uns den (ebenfalls) am 23.April verstorbenen literarischen Titanen der elisabethanischen und jakobinischen Ära anschaulich für unsere Zeit?

Kaum jemand scheint derzeit dafür im deutschsprachigen Raum so geeignet zu sein wie Frank Günther (geboren 1947). Der vielfach ausgezeichnete Freiburger hat Anglistik, Germanistik und Theaterwissenschaften studiert, er ist aber vor allem ein Praktiker (wie Shakespeare) und hat als Regisseur gearbeitet. Seit 40 Jahren übersetzt er das Werk des Briten. Zweieinhalb Stücke und ein Teil der Sonette fehlen Günther noch, dann hat er diese gewaltige Aufgabe vollendet, hat diese Welt als Bühne, die wie ein Irrgarten wirken kann, tatsächlich durchmessen.

Günthers zweisprachige Ausgaben sind bei dtv als Taschenbuch und gebunden bei ars vivendi erschienen. Der englische Text basiert auf der sorgfältigen und hervorragend kommentierten Arden-Ausgabe. Neben den Anmerkungen und Essays renommierter Wissenschaftler gibt es im Anhang auch immer einen Beitrag „Aus der Übersetzerwerkstatt“ mit profundem Wissen über Shakespeare und seine Zeit, der mit leichter Ironie und in flotter Form auch auf die Probleme der Exegese eingeht.

Othello, der POC von Venedig

Konzentriert kann man die Kenntnis dieses Übersetzers nun in „Unser Shakespeare“ erfahren. Auf 335 Seiten bietet er ein reichhaltiges Vademekum zu seinem Lieblingsdichter, ganz im Sinn der Übertragungen dieser Dramen ins Deutsche. Günther spart darin das Vulgäre nicht aus, er bemüht sich darum, das Doppeldeutige auch in der Zielsprache zu erhalten. Lesern, die Shakespeare als überhöhtes Wesen anbeten, mag der Ton respektlos erscheinen, vielleicht geht auch etwas Poesie verloren, aber gerade die Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit erklärt das Genie am besten.

In einem ausführlichen Kapitel erläutert Günther, wie Shakespeare gerade für die Deutschen „Unser Shakespeare“ wurde, wie um ihn ab Mitte des 18.Jahrhunderts ein Kult betrieben wurde, den man schon bei den Briten gekannt hatte: die Shakespeare-Idolatrie. Günther zeichnet in vielen farbigen Details die elisabethanische Welt, in der das Freilichttheater zu den modernsten Medien gehörte. Dort in der üblen Vorstadt trafen sich alle Schichten, viele aufstrebende Bürger wurden als scharfsinnige Dramatiker berühmt. Die Bühne war ein Ort, in der die Umbrüche der Zeit sich fokussierten.

Die Zeitumstände werden geschickt ins Heute übertragen. Günthers Analyse aber gerät gelegentlich zur hemmungslosen Satire, etwa, wenn es um politische Korrektheit geht. „Othello, der POC (,Person/People of Colour‘) von Venedig oder Pippi Langstrumpfs neuer Papa oder Vorauseilender Nachruf auf ein bald unspielbares Stück“ nennt er dieses Kapitel in Imitation elisabethanischer Titel und schließt die aktuelle Diskussion über das „N-Wort“ mit ein. Er führt sie ad absurdum. „War Shakespeare schwul? Oder Entblößung und Verschleierung oder Die Sonette“ nennt er ein Kapitel über die vieldeutigen 14-zeiligen Gedichte mit all ihren aufgeladenen Posen.

Wenn es um „Hamlets wahres Selbst“ geht, werden einige romantische Gewohnheiten über diesen wohl berühmtesten Melancholiker der Bühne zurechtgerückt. Bald weiß man: Dieser Typ ist unfassbar, selbst nach 32 griffigen Kapiteln, zum Beispiel über das angebliche Kuhdorf Stratford, die Grammar School dort für aufstrebende Bürgersöhne, den Sprachkessel London, die „Hurenkunst der Rhetorik“. Günther bringt fast jedes Thema in eine leicht überspitzte Form.

Erbarmungslos verfährt er mit jenen, die anzweifeln, dass der Mann vom Land bis zu 38Stücke, zwei Versepen und 156 Sonette verfasst hat. Mit Zynismus schafft er in bewusster Übertreibung neue Verschwörungstheorien und zerpflückt die alten. Seine Argumente sind ein demagogisches Lehrstück für seriöse Quellenforschung.

Als Schlusskapitel gibt es vom Autor noch ein persönliches Bekenntnis, er bewundert unverhüllt die Sprachmusik, die dialektische Ironie und die Praxisnähe des proteischen Meisters. Shakespeare sei „ein Schauspieler, der gerade seinen Beruf ausübt: Schreibend spielt er Theater. Rolle um Rolle. Er ist der ideale Verwandlungsschauspieler als Autor – mein Shakespeare, der in jeder seiner Rollen steckt und nie sein eigenes Gesicht zeigt, in seinem Theaterreich der unendlichen Fantasie, in der Jahrmarktsbude, auf deren groben Brettern er die Welt zum Schaukeln brachte.“ Da wird er doch noch sentimental, dieser Günther, und zitiertals Finale aus dem „Sommernachtstraum“. Ein frisches Buch, ein Bekennerschreiben, das mit Herz und Verstand den Geist der Shakespeare-Zeit erwecken hilft.

Als Draufgabe hat der Autor noch ein praktisches Büchlein mit ausgewählten Passagen aus dem Werk des Dichters verfasst: „Shakespeares Wortschätze“ lädt – ebenfalls zweisprachig – zu einem Spaziergang durch diese alte Welt in zeitgenössischer Übersetzung ein, mit Wegmarken wie Liebe und Tod, Treue und Untreue, Schweinekram, Schönheit oder Poesie. Es gibt Wortspiele, Flüche, ein bisschen Spuk und viele Träume, dazu ausreichend Mord, Krieg und ein Quäntchen Philosophie, schließlich zur Abrundung sogar Evergreens. „Kaviar fürs Volk“, würde Hamlet dazu sagen.

Leicht verständlich ist auch der seriöse Gesamtüberblick von Hans-Dieter Gelfert geraten. Der Emeritus für Englische Literatur an der FU Berlin hat seine Einführung „William Shakespeare in seiner Zeit“ in fünf klare Abschnitte gegliedert. Der Titel ist Programm. Gelfert will nicht „unseren Shakespeare“ erklären, den an uns angepassten, er verhehlt auch nicht, dass er wenig von modischen Interpretationen hält, sondern führt klare historische Exkurse, ohne allzu viele Spekulationen. War Shakespeare katholisch? Gelfert hält sich mit einer Bewertung zurück. Der biografische Teil fällt entsprechend schmal aus. Der Professor vermeidet das Getümmel überfrachteter Theorie. Er will vorallem über das Werk und dessen brave Interpretation zu einer Art Innensicht gelangen.

Das Ergebnis ist relativ kurzweilig und durch seine klare Struktur auch massentauglich. Einleitend beantwortet Gelfert die Frage nach der Autorenschaft im Sinne der „Stratfordianer“ und verwirft die Alternativen: „Wer einen anderen wahren Shakespeare vorstellt, muss erst einmal zwingende Gründe nennen, weshalb der Schauspieler aus Stratford es nicht sein kann.“ Gelfert lässt keine gelten. Der Zweifel entspringe wohl vor allem dem allgemeinen Interesse an Verschwörungstheorien. Selbst die abwegigsten von ihnen hätten aber oft positive Nebeneffekte, nämlich „mit großem Forschungsaufwand in Nischen der elisabethanischen Gesellschaft und Kultur geleuchtet zu haben, die sonst wohl im Dunkel geblieben wären“.

Hamlet bleibt das große Rätsel

Nach dieser Klärung schildert der Professor das England jener Epoche. Es gab nach Pestepidemien ab Mitte des 14.Jahrhunderts einen dramatischen Bevölkerungsrückgang, in den Rosenkriegen des folgenden Jahrhundert dezimierte sich der Adel, das bot den Bürgern früher und nachhaltiger als auf dem Kontinent die Chance, sich aus feudalen Fesseln zu befreien. Das kreative Ergebnis, die Kultur der Shakespeare-Zeit, wird im nächsten Abschnitt behandelt.

En passant widmet sich Gelfert dann der Lebensgeschichte mit ihren spärlichen biografischen Daten, um schließlich in beinahe der Hälfte des Textes die einzelnen Werke abzuhandeln. Am meisten Raum erhalten die Sonette und der „Hamlet“, die für ihn – auch das ist Mainstream – das Rätselhafteste dieser Dichtung sind. Als Coda gibt es ein wenig Rezeptionsgeschichte, die sich auf England und Deutschland konzentriert. Der Stil ist viel nüchterner als jener von Günther, aber dennoch pointiert. Für eine erste Einführung in den derzeitigen Wissensstand ist dieses mit artigen Drucken in Schwarz-Weiß bebilderte Werk geeignet. Sein Autor erhebt keinen Anspruch auf Sensationen.

Das macht auch nicht ein populärer Klassiker der angelsächsischen Barden-Forschung, dessen Opus eben auf Deutsch erschienen ist. Isaac Asimov (1920–1991), der für Science-Fiction und eine Menge populärer Werke über Naturwissenschaft berühmt war, hat 1970 einen voluminösen, flüssig geschriebenen und leicht lesbaren „Guide to Shakespeare“ veröffentlicht, der das Gesamtwerk behandelt. „Shakespeares Welt. Was man wissen muss, um Shakespeare zu verstehen“ nennt sich die deutsche Ausgabe, die jene Essays wieder zugänglich macht, die sich ausführlich mit den zwölf in Deutschland meistgespielten Dramen beschäftigen, mit „Ein Sommernachtstraum“ an der ersten Stelle bis zu „König Richard III.“ auf Rang zwölf. Das schönste neuere Shakespeare-Buch kommt jedoch noch fast frisch aus London. Neil MacGregor, Direktor des British Museum, hat sich dem Jubilar über ausgesuchte Ausstellungsstücke genähert. Die Methode ist dieselbe, die er kurz zuvor bei seinem Bestseller „Geschichte der Welt in hundert Objekten“ angewandt hat. Das Historische wird durch das Anschauliche lebendig, geistvolle kleine Essays durchdringen die Materie. „Shakespeares ruhelose Welt“, das als Rundfunkserie der BBC beliebt war, ist ein opulentes Buch geworden.

MacGregor holt mit raffinierter Leichtigkeit eine Eisengabel mit einem Knopf aus Messing hervor, die vor 400 Jahren im Rose Theatre in Southwark verloren ging. Wem gehörte sie? Es musste wohl eine feine Dame sein, die italienischen Zierrat liebte, denn gewöhnliche Leute aßen mit den Fingern. Schon gibt es einen Exkurs zu Austern, die bei Aufführungen vom Publikum massenweise verzehrt wurden, so wie auch Nüsse. Ausgrabungen beim Globe zeigten das. Und wer weiß denn schon, dass Shakespeare auch deshalb wohlhabend wurde, weil er beim Eintrittsgeld wie auch beim Catering seines Theaters mitschnitt?

MacGregor hat eine ausgeprägte Liebe zum Detail. Man erfährt von ihm die Vorgeschichte des Union Jack oder, wie verbreitet das Fechten war, man bekommt erklärt, wie James I. durch Münzen politische Propaganda betrieben hat. Durch eine Reliquie Edward Oldcornes entsteht eine Ahnung vom damaligen „Theater der Grausamkeit“. Aus der Wollmütze eines Lehrbuben spinnt sich die Geschichte über „Zucht und Krawall“. Der „Robben-Island-Shakespeare“ stellt einen aktuellen Bezug zu Nelson Mandela her. 20Leitobjekte genügen, um die interessanten Zeiten, die Master Shakespeare durchlebt hat, mit einer Aura zu versehen, die uns diesem geheimnisvollen Dichter näherbringt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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