Riesen, Ritter und andere Monster

Der fantastische Roman „Die Krone“ des Heinrich von dem Türlin aus dem österreichischen Mittelalter wirkt wie ein Tolkien-Vorläufer und ein Blockbuster aus Hollywoods Fantasy-Kiste: Ritter Gawein besiegt sie alle.

Auch hierzulande war zur Freude der Fantasy-Freunde der „Hobbit“ von Peter Jackson, der 2001 bis 2003 die erfolgreichste Filmversion von „The Lord of the Rings“ geliefert hatte, bereits zu sehen. Im 3-D-Verfahren und mit immer raffinierteren Spezialeffekten wird eine neue Wirklichkeit erzeugt, hinter der die erzählerische Quelle mehr und mehr versinkt. Gleichwohl lebt das Werk von J.J.R. Tolkien (von 1892 bis 1973) in seiner Fangemeinde auch noch weiter. Dem gelehrten Erforscher alter germanischer und keltischer Sprachen und Literaturen war es damit gelungen, aus dem Volksglauben jener von ihm erforschten Welt aus Elfen, Zwergen und anderen nicht menschlichen Wesen einen ganz neuen künstlichen Mythos zu schaffen, ja ihn gleichsam an die Stelle des alten Mythos zu setzen.

In gewisser Weise haben dies schon die mittelalterlichen Schöpfer des Artusromans versucht, die aber dem alten Volksglauben, obgleich selbst schon brave Christen, noch viel näherstanden. Es lohnt sich also für den heutigen Liebhaber fantastischer Literatur, auch einmal einen Blick in jene alten Werke zu werfen. Da versperrt einem allerdings die alte Sprache den Weg. Brauchbare Übersetzungen sind rar. Nun ist endlich eine erschienen, die jenen mittelhochdeutschen Versroman erschließt, dessen fantastische Züge in neuester Zeit den größten Beifall der Forschung gefunden haben: „Die Krone“ vonHeinrich von dem Türlin. Außerhalb der Fachwelt ist das Werk, entstanden circa 1230 im Ostalpenraum, vielleicht in Südtirol, bisher so gut wie unbekannt.

Zum Einstieg gebe ich ein kurzes Textbeispiel: Der Held des Romans, Gawein, reitet sinnend über ein Gebirge und sieht die seltsamsten Dinge, unter anderem einen Anger voll stark duftender roter Rosen: „Da stand ein schöner Jüngling in prächtiger Kleidung, doch war an seinem Körper ein großes Unglück zu sehen: Ein scharfer Pfeil war ihm durch die Augen geschossen, und er war unten an seinen Beinen mit zwei Eisenketten stark gefesselt und an ein Bett gebunden. Er hielt einen Fächer in der Hand, mit dem es folgende Bewandtnis hatte: Wenn er den Fächer bewegte, zerstörte er damit den hellen Glanz der Rosen, denn der Wind, der vom Fächer wehte, war wie Feuer. Mit diesem Fächer kümmerte er sich unablässig um eine Jungfrau, die vor ihm auf dem Bett lag. Nun erzählt das Buch, sie sei tot gewesen. Ihre Decke war durch und durch rot, von derselben Farbe wie die Rosen; der Leichnam aber war überall weiß wie Hermelin, und an ihrem rechten Arm lag ein kleiner Zwerg. Er hatte eine prächtige Krone aus einem einzigen Edelstein, einem Rubin. Daneben auf dem Bett lag ein Ritter, der eine klaffende Wunde mitten durch das Herz hatte. Er war schwarz wie ein Mohr, und der Lanzensplitter, an dem ein braunes Banner hing, steckte– wohl eine Elle lang – noch in ihm.“

Ein zugleich leuchtendes und finsteres, prunkvolles und makabres Bild, das kaum jemand vergisst, der es einmal gelesen hat. Man ist von den Kontrasten von Rot, Weiß und Schwarz wie geblendet. Zugleich scheint die düstere Grausamkeit der Gothic Novel des 19.Jahrhunderts vorweggenommen. Doch das Bild hat keine erkennbare Funktion für den Verlauf der Erzählung. Gawein betrachtet eine Reihe solcher Bilder auf seinem Ritt, vermag jedoch nicht einzugreifen, was ihn bekümmert. Erklärungen bietet der Erzähler keine. Auch hier soll keine versucht werden. Der Leser muss sich in dem ganzen Werk (30.000 Verse, in der Übersetzung circa 450 Seiten) auf ein wahres Wechselbad der Eindrücke gefasst machen. Fantastisches wechselt mit Alltäglich-Banalem, Ernst mit Scherz, Belehrung mit Ironie und Satire, breite Tableaus mit hektischer Ereignisfolge. Eine kurze Inhaltsangabe ist unmöglich.

Im Zentrum steht der Hauptheld Gawein, ein „Superritter“, der aufgrund seiner überragenden Tapferkeit auch die Glücksgöttin ganz auf seiner Seite hat, die ihm in den lebensbedrohlichen Auseinandersetzungen mit zahlreichen übermenschlichen Gegnern, insbesondere mit Fimbeus, dem Geliebten ihrer Schwester, beisteht. Diese, die Göttin (=Fee) Garamphiel, hat Fimbeus mit einem Zaubergürtel ausgestattet, der unüberwindlich macht. Da Gawein aber eine unverletzliche Rüstung erhält, heben die beiden Zauber sich auf, und Gaweins Kampfeskraft siegt. Nicht genug mit den getöteten Riesen, Drachen und Monstren, die seinen Weg säumen, kann Gawein schließlich noch die von Parzival versäumte Frage beim Gral stellen und damit die (untote) Gralsgesellschaft erlösen.

In diese Haupthandlung sind zahlreiche Nebenhandlungen eingeschoben, aber auch immer wieder moralisierende und/oder spöttische Betrachtungen. Aber jedes Mal, wenn der von solcher Redseligkeit ermattete Leser aufgeben will, stößt er auf faszinierende Szenen, die teilweise auch für damalige Erzählungen ganz neu waren, so die einlässliche Darstellung von Erotik und Sexualität. Da erhält man in Form einer Beschreibung von fast 70 Versen geradezu Unterricht im Wesen des „echten“ sinnlichen Kusses.

Frauenlob mit misogynen Zügen

Besonderen sittlichen Abscheu der älteren Forschung hat die genaue Schilderung einer (versuchten) Vergewaltigung erregt. Neue Kritik kommt von feministischer Seite. In der Tat trägt der ganze Roman latente misogyne Züge, mag der Erzähler auch die höfische Frauenverehrung wie ein Banner vor sich hertragen. Aber enorm modern wirkt die Szeneallemal, auch wenn der heutige Leser ganz anderes gewöhnt ist. Heinrich verhüllt ja alles Sexuelle unter einem Schleier von Metaphern, lässt es aber gerade dadurch poetisch umso deutlicher hervortreten.

Auch Heinrichs Sprache ist durchaus ungleichmäßig, mitunter verdammt manieristisch und dementsprechend schwer zu übersetzen. Wenn man die Eigenart und Fremdheit des alten Textes durchscheinen lassen will, erschwert das die Lektüre. Wenn sich Florian Kragl dennoch für philologische Genauigkeit entscheidet, gebe ich ihm grundsätzlich recht. Wo man gar nichts mehr verstehen kann, wird es freilich problematisch. Ausgestorbene Ausdrücke wie „Vespereide“ oder „Klaret“ muss man meines Erachtens übersetzen oder erklären. Anmerkungen sind bei Übersetzungen unbeliebt, hier aber kaum vermeidbar. Kragl hätte sie öfter anbringen sollen. Nicht erwärmen kann ich mich für antiquierte Ausdrücke wie „Jungfrau“ für „Edelfräulein“ oder für moderne kolloquiale Wendungen wie „nicht die Bohne“ oder „mit großem Trara“.

Insgesamt hat Kragl den (schon von der handschriftlichen Überlieferung her) oft dunklen Text gut bewältigt, auch wenn ich an so mancher Stelle anders übersetzen würde. Doch muss alle Kritik angesichts des enormen Verdienstes, das sich Kragl mit der Aufbereitung dieses umfangreichen mittelalterlichen fantastischen Romans für das moderne Publikum erworben hat, kleinlich erscheinen. Wenn die Übersetzung nicht in einem wissenschaftlichen Verlag vergraben wäre (der nicht einmal ein Autorenhonorar zahlt), könnte sie vielleicht sogar ein Verkaufserfolg werden. ■

Heinrich von dem Türlin

Die Krone

Unter Mitarbeit von Alfred Ebenbauer † ins Neuhochdeutsche von Florian Kragl. 510 S., brosch., €30,60 (De Gruyter
Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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