Das war's nicht wert!

Maria kann und will die Interpretation von Leben und Sterben ihres Sohns, an der so mancher Jünger bastelt, nicht bestätigen. In Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“ verweigert sich die Muttergottes. Sie verabscheut diese Männerwelt der Sektierer und Attentäter. Ein starkes Buch.

Die Evangelien und die Tradition schreiben Maria eine im Großen und Ganzen duldende Rolle zu. „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ So Maria zum Engel, der ihr den Beschluss Gottes mitteilt. Denn es ist ein Beschluss, der da verkündet wird, nicht etwa eine Anfrage.

Und so geht es weiter. Maria empfängt und gebiert – wovon ausführlich die Rede ist. Und zieht das Kind groß – wovon weniger die Rede ist. An einer Stelle im Lukasevangelium werden allerdings ihre Sorgen mit dem Heranwachsenden angedeutet. „Mein Sohn, warum hast du uns das angetan?“ fragt sie, als sie und Josef den gerade Zwölfjährigen, den sie nach dem Passahfest, zu dem sie nach Jerusalem gepilgert sind, mit rasch wachsendem Schrecken vermisst haben, endlich im Tempel finden, wo er die Schriftgelehrten in Erstaunen versetzt. „Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“

Hier gibt Lukas dem Jesus, den er und seine Evangelistenkollegen verkünden, die erste Gelegenheit, sich von seiner irdischen Familie zu distanzieren. „Warum habt ihr mich gesucht?“, sagt der. „Wisst ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?“ Und die armen Eltern verstehen nicht, was der altkluge Bub meint. „Maria aber“, heißt es, „bewahrte diese Worte in ihrem Herzen.“

Maria, eine Frau, die später alles verstehen wird. Die Worte, die ihr Sohn damals gesprochen hat, und die Handlungen, durch die er sich immer weiter von ihr und den Seinen entfernen wird. Vom Anfang bis zum nur scheinbar schrecklichen Ende. Denn auf den, zugegeben, qualvollen Tod folgt schließlich die exemplarische Auferstehung – und das ist bekanntlich die Erlösung.

Die Frau, der Colm Tóibín, in New York lebender irischer Schriftsteller, eine Stimme gibt, ist weit entfernt von solcher Einsicht. Sie würde den Horror, auf den alles hinausgelaufen ist, am liebsten vergessen. Sie lässt sich nicht vereinnahmen, nicht einspannen in die Verbreitung eines Evangeliums. Der Umdeutung des Ungeheuerlichen in eine frohe Botschaft will sie nicht folgen.

Maria in Ephesus, wo sie, folgt man einer aus apokryphen Schriften gespeisten Tradition, ihre alten Tage verbracht hat. Bei Tóibín ist der Ort, an dem sie sich dort aufhält, kein Refugium, sondern eher eine Art Schutzhaft. Zwei Männer suchen sie offenbar regelmäßig heim, um sie in ihrem Sinn zum Sprechen zu bringen. Möglicherweise (so der Autor in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“) handelt es sich um Johannes und Paulus.

Maria verweigert sich. Sie kann und will die Interpretation von Leben und Sterben ihres Sohns, an der diese Herren arbeiten, nicht bestätigen. Vom Anfang – der Geburt und Empfängnis dieses Sohns – bis zum Ende – seinem Tod am Kreuz – hat sie es anders in Erinnerung.

„,Er war der Sohn Gottes‘, sagte derMann, ,und er wurde von seinem Vater ausgesandt, um die Welt zu retten.‘

,Durch seinen Tod schenkte er uns das Leben‘, sagte der andere, ,durch seinen Tod erlöste er die Welt.‘

Da wandte ich mich zu ihnen, und was immer in meinem Gesichtsausdruck gewesen sein mag – die Wut gegen sie, der Kummer, die Angst –, sie sahen beide erschrocken zu mir auf. Und einer von ihnen begann, auf mich zuzukommen, als wollte er mich davon abhalten, das zu sagen, was ich jetzt sagen wollte ... Ich flüsterte es erst, und dann sagte ich es lauter ...

,Wenn Ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war.‘“

Colm Tóibíns Maria – eine einfache Frau, die sich über die Beschaffenheit der Welt, in der sie immer noch lebt, keine Illusionen macht. Einer Welt, in der die Macht des Faktischen diktiert. Damals, im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, heißt diese Macht Rom. Wer eine andere Welt haben will, hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben.

It's A Man's World – ja, genau, eine schreckliche Welt. Eine Welt, die Maria im Lauf eines zugrunde gerichteten Frauenlebens zu verabscheuen gelernt hat. Nicht nur die Welt der herrschenden Macht Rom, sondern auch jene der diffusen Sektiererei und des nationalreligiösen Fanatismus. Just die Welt, die Reza Aslan, geboren im Iran, aber als Sohn einer vor der islamischen Revolution geflohenen Familie in den USA aufgewachsen, in seinem Buch „Zelot“ evoziert.

Zum Unterschied von „Marias Testament“ ist das ein Sachbuch. Untertitel: „Jesus von Nazaret und seine Zeit“. „Wenn man über Palästina im ersten Jahrhundert spricht“,heißt es da gleich im ersten Kapitel, „darf man nicht vergessen, dass dieses Land besetztes Gebiet war. Überall in Judäa waren römische Legionen stationiert.“

Eine grausame Zeit, in der die Eiferer(das eben bedeutet das Wort „Zelot“), die sichals Gerechte fühlen, oft als Attentäter unterwegs sind. Bomben gibt es noch nicht, aber die Dolche, mit denen die Sikarier (übersetzt: Dolchmänner) flott umgehen, tun auch ihre Wirkung. Gegen die Kollaborateure zuallererst, diejenigen, die sich mit den Besatzern gemein machen. Mit jenen organisatorisch und vor allem militärisch empörend überlegenen Vertretern der Supermacht, die sich als Herren der Welt aufspielen.

Aber nicht nur im Verborgenen wird Widerstand geleistet. Immer wieder flackern Aufstände auf. An allen Ecken und Enden des kleinen Landes gibt es Widerstandsnester, in denen sich Leute, die man heute als Warlords bezeichnen würde, zum Messias erklären. Und der Messias ist natürlich nicht das, was eine durch 2000 Jahre Christentum an eine ganz andere Vorstellung gewöhnte „westliche“ Welt bis vor relativ kurzer Zeit unter dieser Bezeichnung verstanden hat (also der in der Krippe geborene, von Engeln besungene, von Weisen aus dem Morgenland beschenkte, später Aussätzige und Epileptiker heilende, Brot und Fische vermehrende, tätige Liebe lehrende, jedenfalls durch und durch friedfertige Mensch, nein eben mehr als Mensch, Gottessohn, den die ahnungslosen Römer nur aufgrund eines von den hinterhältigen Juden geschürten Missverständnisses gekreuzigt haben), sondern derjenige, der das Land von den Okkupanten befreien und darin ein Königreich Gottes errichten oder zumindest vorbereiten soll – man könnte auch sagen: einen Gottesstaat.

Einen Gottesstaat allerdings, in demnicht das klerikale Establishment herrschen soll – das ja, das spricht Jesus in seinem heiligem Zorn oft genug aus, Gottes Willen verfälscht und verdreht hat –, sondern Gottes Gerechtigkeit. Die Seligpreisungen der Bergpredigt, so Aslan, seien mehr als alles andere das Versprechen einer bevorstehenden Erlösung von Knechtschaft und Fremdherrschaft. Die Reichen werden dann arm, die Starken schwach, die Mächtigen durch die bisher Machtlosen ersetzt sein. Das Reich Gottes wäre der radikale Umsturz der Verhältnisse.

„Zu sagen, das Reich Gottes ist nahe, bedeutet daher etwa so viel, als sagte man, das Ende des römischen Imperiums sei nahe. Es bedeutet, dass Gott den Kaiser als Herrscher des Landes ablösen wird.“ Mein Reich ist nicht von dieser Welt – diese Worte werden gern als Beleg dafür herangezogen, dass Jesus nur jenseitige Ambitionen hatte. Im griechischen Text – darauf weist Aslan hin – heißt es eher, mein Reich passt nicht zu diesem System.

Mit Leuten, die so etwas im Sinn haben, macht Rom kurzen Prozess. Hat man sie nicht schon beim Ausräuchern ihrer Nester irgendwo in den Bergen oder in der Wüste erledigt, so schlägt man sie ans Kreuz, das ist das übliche Verfahren. Die Kreuzigung ist eine grauenhafte Art der Hinrichtung, geradezu demonstrativ stellt man die Hinrichtungsinstrumente in die Landschaft. Das hat seine Logik. Es soll der Abschreckung dienen.Die Unvernunft soll endlich aufhören.

Rom hat alle Konkurrenten um die Weltmacht besiegt und glaubt am Ende der Geschichte angelangt zu sein – damals nennt man diesen Zustand Pax Romana. Und dann das: Der Widerstand in diesem kleinen, eigentlich recht nebensächlichen Land hört nicht auf. Der Terror, den die Römer dort ausüben, lässt sich durchaus mit dem von George W. Bush erklärten Krieg gegen den Terrorismus vergleichen. Irgendwann reicht es – dann reißt den Herren dieser Welt die Geduld, und sie zerstören Jerusalem.

Aber am Ende wird doch alles gut, oder? Die Evangelisten werden Jesus von seinen jüdischen Wurzeln losreißen und Pilatus einen guten Mann sein lassen. Und die Juden, die – vor dieser absurden Anschuldigung schreckt man, wenn man die Sympathie der Griechen und Römer gewinnen will, nicht zurück – kollektiv seine Kreuzigung verlangt haben, werden schuld sein am Tod des Erlösers (nicht des Erlösers von der Fremdherrschaft, der Ungleichheit, der Ausbeutung, sondern des Erlösers von den Sünden). Und binnen knapp drei Jahrhunderten ist das Christentum römische Staatsreligion.

Und wo weiter. Von da an läuft die Weltgeschichte als Heilsgeschichte. Und es wird Päpste geben und Kaiser und das christliche Abendland. Und der tote Jesus ist, Paulus sei Dank, als lebendiger Christus auferstanden. Und die Erlösung hat schon stattgefunden, auch wenn die Welt keineswegs danach aussieht.

Von all dem weiß Tóibíns Mutter Maria noch nichts. Will auch nichts davon wissen, sie, die Mutter eines auf grässliche Weise umgebrachten Sohns. Eines Sohns, der sich immer weiter von ihr und seiner Familie entfernt hat. Eines Sohns, dessen Entwicklung sie auch oder erst recht nach seinem Tod befremdet.

„Es kamen aber seine Mutter und seine Geschwister zu ihm“, heißt es bei Lukas, „doch konnten sie wegen des Gedränges nicht zu ihm gelangen.“ Von den Jüngern darauf aufmerksam gemacht, äußert sich Jesus rüde. „Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder?“, fragt er. Seine wahren Verwandten sind für ihn andere.

Dieser Sohn ist am Kreuz gestorben,flankiert von zwei anderen Zeloten, die in älteren Übersetzungen des Neuen Testaments als Schächer bezeichnet werden. „Er starb, um die Welt zu erlösen“, sagt einer der beiden lästigen Besucher zu Maria. „Seine Leiden waren notwendig“, sagt er. „Genau so würde die Menschheit errettet werden.“ „Errettet?“ fragt da Maria. „Wer wurde errettet?“

„In gewisser Weise“, sagt Tóibín im oben erwähnten Interview, „könnte aus meiner Figur auch die Mutter eines Selbstmordattentäters sprechen.“

Das ist stark. Und „Marias Testament“ ist ein starkes Buch. Dabei ein Buch, das Kritiker gern als schmales Bändchen bezeichnen. Stark und erschreckend. Von einer Trostlosigkeit, die manchmal schwer zu ertragen ist.
Und wir, die wir nicht wollen, dass es damit sein Bewenden hat? Was bleibt uns nach dieser radikalen Lektüre? – Mein Vorschlag: Hören Sie trotzdem oder gerade deshalb den „Messias“ von Händel. Und lesen Sie Texte des großen Kurt Marti (etwa das ganz bescheiden aufgelegte Reclam-Bändchen „Wen meinte der Mann?“) oder von Patrick Roth („Mulholland Drive: Magdalena am Grab“ in den in der Edition Suhrkamp erschienenen „Frankfurter Poetikvorlesungen“).

Wenn diese Bücher vergriffen sind, suchen Sie trotzdem danach. Vielleicht haben Sie Glück und finden sie in irgendeiner Schachtel mit Billigangeboten. So etwas soll ja in Zeiten wie diesen noch vorkommen. Ich glaube jedenfalls, dass es lohnt, sie zu finden. ■

Colm Tóibín

Marias Testament

Roman. Aus dem Englischen von Beschreibung von Ditte und Giovanni

Bandini. 128S., geb., €15,40 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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