Im Spiel sich aus dem Spiel lassen

Das Seemannsgarn war der Webfaden seiner novellistischen Texturen. Mit Joseph Conrad begann der moderne englische Roman. Zum 150. Geburtstag – eine Hommage.

Um eine Prosa mit hohem Seegang schreiben zu können, bedarf es der Selbstdisziplinierung bei Flauten: Bekannt ist, dass Joseph Conrad zuweilen für drei Sätze bis zu acht Stunden aufwenden musste, ein Verfahren, das in seiner Mühsamkeit an jenes des von ihm bewunderten Flaubert erinnerte.

Conrad war ein Schriftsteller des Meeres wie Herman Melville und Ernest Hemingway, und zudem ein polnischer Aristokratenspross, aufgewachsen in der Nähe von Kiew, mit seinen Eltern in die Sumpflandschaft Nordrusslands zwangsumgesiedelt wegen antizaristischer Aktivitäten des Vaters, eines glühenden polnischen Patrioten; mit elf Jahren wurde Jósef Teodor Konrad Korzeniowski zum Vollwaisen, mit 16 schlug er sich nach Frankreich durch, wo er mit
21 einen Selbstmordversuch verübte, um schließlich in Großbritannien in die Handelsmarine einzutreten und das Kapitänspatent zu erwerben. In den Kolonien der Europäer, die er bereiste und über die er bald unter dem Namen Joseph Conrad schrieb, fand er nichts als Anmaßung der Weißen vor, wurde Augenzeuge ihrer Gräueltaten, nirgends mehr als im belgischen Kongo, das ihm später zum Sinnbild einer „Finsternis“ des Unmenschlichen wurde, zu dessen „Herz“ er erzählend neu vorstieß.

Über Jahre hatte sich Conrad hoch verschuldet, lebte mit seiner Familie beständig am Rande des Ruins und – wie er in Briefen oft genug betonte – des Wahnsinns, als er ausgerechnet mit einem Roman, der das „Spiel des Zufalls“ zum Thema hatte, reüssierte. Conrad, ein Edelmann, der zum Abenteurer wurde, zum Hasardeur, das aber in einem ganz besonderen Sinne: Er setzte seine Sprache aufs Spiel, das Polnische, versuchte sich im Französischen, um schließlich auf Englisch zu reüssieren, wie kaum ein Engländer es vermocht hätte; wenngleich ihm sein Freund und Schriftstellerkollege, der auch Ezra Pound und James Joyce, somit dem avancierten Modernismus in der Literatur aufs engste verbunden gewesene Ford Maddox Ford, in Sachen englischer Grammatik und Stilistik lange zur Hand ging.

Zugegeben, sein polnischer Akzent wirkte sich – Ohrenzeugen zufolge – gelegentlich verständigungshemmend aus. Darum bevorzugte er das Schriftenglisch; in Gesellschaft schwieg er zumeist. In einer Miszelle zu Joseph Conrad griff Ilse Aichinger seinen vielleicht charakteristischsten Satz auf: „Nur zusehen – ohne einen Laut“. Die Schlusspassage dieser trefflichen Meditation Aichingers über diesen Conrad-Satz lautet: „Das heißt nicht, aus dem Spiel bleiben, sondern im Spiel sich selbst aus dem Spiel lassen. Das heißt, im Spiel mit den Wörtern seine eigene Lautlosigkeit in die ihre einbringen. Das heißt in diesem Zeitalter, in dem alles erzählt und nichts angehört wird, alles auf den Kopf stellen. Der Erzählwelt Schweigen abfordern, der Welt, sich selbst, den Wörtern, den Klängen. Und die äußerste Form des Schweigens, die Lautlosigkeit. Erst auf dieser Grundlage des lautlosen Zusehens, Zuhörens wird die Sprache wieder Laut gewinnen und die Wörter den Reiz, der eine späte Spielart der Notwendigkeit ist.“

Schreiben heißt nach Conrad, der vorgefundenen Welt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; es bedeutet aber auch eine ungeheure Sprachanstrengung, von der er im Vorwort zu seiner großen Erzählung „The Nigger of the ,Narcissus‘“ (1897) spricht, eine Anstrengung, verbunden mit dem Horchen auf den Klang des Satzes und der Arbeit mit allen Sinnen, bis dass die Sprache plastisch werde und die „alten, alten Worte“, die verbraucht und entstellt sind durch nachlässigen Gebrauch, überformen kann.

In selbigem Vorwort, einer der wenigen erzähltheoretischen Selbstaussagen Conrads, bezeichnet er auch den Weg des Künstlers als ein In-sich-selbst-Hinabsteigen („the artist descends within himself“). Conrad, der einen ausgeprägten Sinn für das Mysteriöse im Leben hatte, konnte es ja als eine besondere Fügung ansehen, dass er vor dem Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit in Bombay als zweiter Offizier auf einem Schiff anheuerte, welches den Namen „Narcissus“ führte.

Der Wirklichkeit gerecht werden, ihren Abgründen und Widersprüchen, das bedeutete für Conrad auch, sich ihren dunklen Seiten zu stellen, dem Nationalismus, aber auch dem Rassismus. Darin ganz Künstler, ließ Conrad seine Charaktere diese Rollen übernehmen; zu diesen „Charakteren“ gehörten auch – man vergisst das zu leicht – die Erzähler seiner Geschichten. In „The Nigger of the ,Narcissus‘“ schildert der fraglos rassistisch argumentierende Erzähler den sterbenden schwarzen Matrosen, James Wait, wie folgt: „Er hob seinen Kopf in den Schein der Lampe – ein Kopf wie in tiefen Schatten und Licht geformt – ein Kopf, wuchtig und missgestaltet mit einem gequälten und flachen Gesicht – ein jämmerliches und brutales Gesicht: die tragische, die geheimnisvolle, die widerliche Maske einer Niggerseele.“

Nicht zuletzt aufgrund dieser Stelle hat man Conrad des Rassismus geziehen, hat ihn einen Reaktionär genannt, der sich in der Gesellschaft von Imperialisten wie W.E. Henley, in dessen Zeitschrift „New Review“ Conrad publizierte, wohl gefühlt habe. Doch der Casus verhält sich komplexer. War Conrad nicht auch mit dem sozialistischen Anarchisten R.B. Cunninghame Graham befreundet, ebenso mit dem Chronisten des Establishments, John Galsworthy, der ihn lange Zeit finanziell generös unterstützte? War es nicht Conrad, der einmal sagte, Millionäre und Bankiers seien die eigentlichen Anarchisten in dieser Welt?

Flaubert, Turgenjew, weil der „westlichste“ aller russischen Schriftsteller, und Henry James mögen Conrads Vorbild in Sachen Stil gewesen sein, das Meer aber war sein erzählerisches Terrain und entsprechend das Seemannsgarn der Webfaden seiner novellistischen Texturen. Im kurzen Vorwort zu einer Neuausgabe von „Lord Jim“ (1917) bezog sich Conrad ausdrücklich auf dieses erzählende Garn-Spinnen als Schreibprinzip. In ihrer posthumen Würdigung Conrads ließ Virginia Woolf keinen Zweifel an der schieren Modernität dieses „geheimnisumwobenen Gastes“ unter Englands Schriftstellern: „Conrad war eine Mischung aus zwei Menschen; gemeinsam mit dem Schiffskapitän lebte jener subtile, verfeinerte und sorgfältig analysierende Beobachter, den er Marlow nannte.“ Und es war jener Marlow, der sich in das „Herz der Finsternis“ im Kongo vorwagte, in seinem vielleicht populärsten Roman, streng genommen ein Bericht vor dem farbigen Lokalkolorit Singapurs über die Psyche eines Antihelden, der sich von einem scheinbar sinkenden Schiff rettet und den anderen, panisch geängstigt, Hilfe verweigert. Conrad schildert und analysiert in dieser großen Erzählung, mit der für viele Kritiker der moderne englische Roman beginnt, die Schwäche des Menschen, sein Versagen in Extremsituationen und sein Leiden am Überleben. Dass das Zutrauen zu sich selbst dann gewinne, wenn ein anderer Mensch an einen glaubt, diese Maxime des Novalis wählte Conrad zum Motto seines Romans.

Im Jahre 1926 sah sich auch Thomas Mann aufgerufen, zwei Jahre nach Conrads Tod aus Anlass der deutschen Ausgabe von dessen Roman „The Secret Agent“ (1907) sich über diesen „Seemann und Autor“ zu äußern. Er tat dies auffallend eindringlich. Er befand, unverhohlen befriedigt: „Conrads Westanschluss bedeutete keine künstlerisch-geistige Verbürgerlichung“; etwas von seiner slawisch-rebellischen Substanz habe er beibehalten. Und das hieß, Conrad war auch für Thomas Mann selbst und seine intellektuelle Neuorientierung als eine Art Modellfall tauglich; das hatte durchaus seine Berechtigung, denn Conrad sah seine Welt, auch die seiner Herkunft, „mit den Augen des Westens“ (so auch der Titel eines im Jahre 1911 veröffentlichten Romans) und betonte die geistig-kulturelle Westbindung Polens. Thomas Mann zitierte übrigens jene Stelle aus dem Roman „Der Geheimagent“, die bis heute nichts an brisanter Aussagekraft eingebüßt hat: „Gleich und gleich. Der Terrorist und der Polizeimann kommen aus dem gleichen Ei. Revolution und Gesetz – Gegenzüge im gleichen Spiel.“

Einen „Patrioten der See“ nannte man ihn, der seinerseits jedoch mehr sein wollte, so erfolgreich etwa seine Essays „Der Spiegel des Meeres“ auch gewesen sein mochten; für ihn waren sie eine Brotarbeit, die er als „Quark“ bezeichnete. In der anschaulich geschriebenen und glänzend übersetzten Biografie von John Stape lässt sich dieses dramatische Auf und Ab im Leben und Schaffen Joseph Conrads geradezu atemlos mitverfolgen. Zuweilen gewinnt man den Eindruck, als gleiche diese Biografie einem Conradschen Fortsetzungsroman, dessen nächste Folge man kaum erwarten kann. Stape gelingt es, das Kolorit der Zeit gleichsam nebenbei mit einzufangen, wenn er berichtet, wie ein Transportarbeiterstreik den ewig unterwegs gewesenen Conrad an den Schreibtisch fesselte und auch das Fassen von Kohle für die Jungfernfahrt der „Titanic“ erschwerte, zu schweigen von jener Szene, als sich Conrad mit seiner Familie nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Krakau, Zakopane und Wien befindet und plötzlich als feindlicher „Engländer“ eingestuft wurde; wie er mit seinem Sohn Borys zu einem Schießstand in Wien geht, „wo die Ziele zu seinem Entsetzen schottische Pappinfanteristen im Kilt waren, worauf er seinen Sohn anwies, nur ja vorbeizuschießen.“ Wir erfahren auch, dass Conrad einer behördlichen Verfügung nach für die Dauer des Krieges in Wien hätte festgehalten werden sollen; sie war jedoch verloren gegangen (ein Lob der Schlamperei!) und Conrad konnte mit Hilfe des amerikanischen Botschafters über Italien nach England zurückkehren.

Es ist das Weltumspannende seines Erzählens, das noch heute seine Leser beeindruckt, sein lebenslanger Bericht vom Abenteuer Sprache, das ihn seine Seereisen auf dem Schreibtisch nacherleben ließ, ein Erzählen, das von Singapur bis St. Petersburg, von London bis in den Kongo und in „Nostromo“ (1904) nach Südamerika ins fiktive, an William Faulkners „Yoknapatawpha County“ erinnernde „Costaguana“ führt.

In seinem letzten Lebensjahr sah er sich von W.B. Yeats um den Nobelpreis gebracht. Andere Ehrungen lehnte er ab, Ehrendoktorwürden, auch die Erhebung in den Ritterstand. Begraben wurde er in Canterbury. Sinniger wäre es gewesen, seine Asche auf den Weltmeeren zu zerstreuen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2007)

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