In der Hölle Europas

Bulgarien, hoffnungslos; Afrika, illusionslos; Indien, furchtlos. Ilija Trojanows Reportagen halten einem xenophobischen Westen den Reichtum einer vernetzten Welt entgegen.

Ilija Trojanow ist Autor-Aktivist, ein Sprachentalent und kulturelles Chamäleon. Der ehemalige Flüchtling, Expatriate und heutige Herausgeber, Dichter, Reisende, Pilger, Muslim erweitert das Berufsbild für Autoren, indem er gelebte Erfahrung mitteilt und nicht vom Schreibtisch aus reist. Das Bedürfnis nach Authentizität, jenseits medial vermittelter Bilder, ist, was seine Leser fasziniert. In unserer zerrissenen und Nach-9/11-Zeit schlägt sich der unerschrockene Autor – zumindest religiös – auf die Seite des meist undifferenziert dargebotenen Feindbilds Islam und plädiert von dort her für Verständnis. Er möchte das Verbindende der Kulturen herausstellen. So auch mit seinem Roman „Der Weltensammler“, in dem er zurück in die Geschichte reist, um über befruchtende Begegnungen zu berichten. Trojanow ist jedoch kein theoretischer Autor, der fertige Modelle des Verstehens liefert. Wo es seinen Texten an schlüssigen Gedankengebäuden mangelt, kann er als Verkörperung seiner Ambitionen einspringen. Und das muss ihm erst jemand nachmachen.

Mit dem jüngsten Buch, „Der entfesselte Globus“, begleitet man den Autor an Orte, an die man selbst nie gekommen wäre oder an denen man sich nicht verständigen hätte können, da die meisten wohl nicht, wie Trojanow, Urdu, Hindi, Persisch, Arabisch, Bulgarisch und so fort sprechen. Der geografische Bogen dieser Reportagen, vermischt mit poetischen Elementen und kurzer Prosa, reicht nämlich von Bulgarien über Afrika und Asien zurück nach Deutschland.

In Afrika reflektiert er über Apartheid, Reste von Herrenmenschentum und Kolonialismus, über das Verhältnis von Mensch-Tier-Natur, die Sehnsucht westlicher Menschen nach einem unschuldigen Naturzustand, die den Einheimischen ihre Lebensgrundlage zerstört. In Safari-Lodges wird mit Hilfe absoluter Künstlichkeit eine Illusion unberührter Natur geschaffen. Afrikaner sind dazu überflüssig, der Kontinent ist eine Projektionsfläche für Ursprungsfantasien der zivilisationsmüden Weißen. Am Beispiel der Isländerin Björk beschreibt Trojanow, wie die reichhaltige Tradition Afrikas auch der Popmusik zum Selbstbedienungsladen wird. Die Stars schmücken sich mit „Offenheit“, kommunizieren aber mit einheimischen Musikern nie auf Augenhöhe, beuten lediglich deren kreatives Potenzial aus.

Da der Kontinent immerhin Trojanows Ort der Sprachwerdung war, liegt in diesen Texten immer ein Stück mehr Liebe als in den Berichten aus Kulturen, die er sich erst als Erwachsener erschlossen hat. Mit Indien beschreibt der Autor die zunehmende materielle Ungerechtigkeit, die Abschottung der Reichen in gated communities, die Verbindung von Spiritualität und Technologie in einer dynamischen Allgegenwart sowie die zerstörerischen Strukturen des einstigen Kolonialismus. Er erwähnt Salman Rushdie als den ersten indischen Autor, den er gelesen hat und dessen Modell einer Melange verschiedenster, auch unpassender Elemente zu einer neuen literarischen Sprache er schätzt.

Beklagt werde in Indien, so Trojanow, die Arroganz des Westens nach 9/11, während in Pakistan, schlimmer noch, der Volkszorn von Rädelsführern wie ein Theaterstück für westliche Medien inszeniert werde. Bei den Fernsehbildern, die uns das Fürchten lehren sollen, handle es sich um minutenkurze Empörung von bezahlten Statisten.

In arabischen Ländern beobachtet Trojanow zurzeit eine gefährliche Mischung aus Opfermythos, vager Kapitalismuskritik und religiöser Romantik, die aus den Problemen einer raschen Modernisierung erwachse. Das Nebeneinander von Traditionsverlust und zu viel Komfort nach westlicher Art schaffe ein Unbehagen, dem mit Religion nur unzureichend abgeholfen werden kann. Sein Herkunftsland Bulgarien wiederum stellt Trojanow als hoffnungslos dar. Ohne die Schrecken der kommunistischen Vergangenheit bewältigt zu haben, werden die alten Verhältnisse voll Korruption, Kriminalität, Drogenhandel, Waffenschieberei nahezu bruchlos weitergeführt. Bulgarien ist die Hölle Europas, und abgesehen von ein paar Mahnungen seitens der EU überlässt man das Land sich selbst.

Dieser abstoßende Ort hatte Trojanows Familie vertrieben und bedeutete den Beginn seiner ständigen Wanderschaft. Die erste Begegnung mit der Fremde gab dem Kind erstmals Anlass, verstehen zu wollen, und weckte seine Neugier. So wurde sogar die Flucht eher zum Abenteuer als zum Trauma. Der Bub gewann daraus die Fähigkeit, Heimat nie mehr als unverwechselbare Ganzheit zu begreifen, in der Geborgenheit, Sprache, Ort zu einem angeblich Einmaligem, verschmelzen. Er schließt daraus: „Es gibt keine Heimat, die nicht zur Fremde werden könnte, und umgekehrt.“

Trojanows Kindheitserinnerungen aus Nairobi, in poetischen Schnipseln, Anekdoten und Reflexionen, gehören zu den intensivsten Texten dieses Bandes. Erfrischend, etwa die Reaktionen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler verschiedener Herkunft an der deutschen Schule, die sich weigerten, die deutsche Nationalhymne zu lernen, und in der Folge die Kategorien nationaler Zugehörigkeit spielerisch durcheinanderbrachten. Trojanows aus diesen Erfahrungen gewonnene Erkenntnisse sollten sich Erziehungsberechtigte und Ministerien aller Nationen hinter die Ohren schreiben:

Erstens: Es ist wichtig, in mehreren Sprachen aufzuwachsen. Zweitens: Die Existenz des anderen zu begreifen, ist selbstverständlich, wenn man damit seit früher Kindheit konfrontiert wurde. Drittens: Dadurch gewinnt man einen unverstellten Blick „auf vermeintliche Wahrheiten“, und viertens: Es ist möglich, mehrere „Heimaten“ und eine dynamische Identität zu haben.

Zum Schluss des Buches erfahren wir noch die persönliche Wunschvorstellung des Autors, die er mit dem antihierarchischen Bild von Indras Netz verdeutlicht. Jedes empfindungsfähige Wesen sei Knoten(punkt) eines immensen Netzes, in dem jeder mit jedem in gleicher Weise verbunden sei. Dieses Bild der Interdependenz aller Menschen hält Trojanow dem westlichen Denken der Differenz entgegen. „Wir spiegeln uns alle gegenseitig ineinander, und das gilt besonders für die vielen kleinen Sprachen und Länder Ost- und Zentraleuropas.“ Das Abwehren des Fremden, zum Beispiel in der EU, bedeute, so Trojanow, dass der Prozess des ständigen Werdens unterbrochen werde, die Lebendigkeit beendet, und heißt, dass Zukunft nie stattfinden wird. Europa schließe sich im Museum seiner selbst zum Sterben ein.

Wollen wir das? Eigentlich nicht. Aber um das Denken der Differenz zu verlernen und durch wirksamere Systeme zu ersetzen, braucht es noch viel Training und noch mehr unablässiges Beteuern, Bereisen und Bezeugen durch zukunftsweisende Autoren, wie Ilija Trojanow. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2008)

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