Viele Waren, wenige Käufer

Kinder werden zu marken-treuen Konsumenten erzogen, Erwachsene zu zwanghaften Käufern infantilisiert. Benjamin Barber erkennt den „Konsumkapitalismus“ – und verkennt den Kapitalismus.

Kaufen ist die neue Bürgerpflicht. Der US-Politologe Benjamin Barber sichtet ein Ethos, das die Bürger zu kindlichen Verbrauchern macht, um den „Konsumkapitalismus“ abzusichern. Diese „Regression“ untergrabe allerdings nicht nur die Kulturleistung des Erwachsenwerdens, sondern auch die Demokratie, weil vom mündigen Bürger nicht viel übrig bleibt.
Keine 20 Jahre ist es her, dass die Mauer fiel, und die Kapitalismuskritik wächst – in den USA. Galten Demokratie und Kapitalismus lange Zeit als siamesische Zwillinge und bei Francis Fukuyama sogar als Endstation der Zivilisation, so macht sich neuerdings die Antithese breit: „Warum ist der Kapitalismus so stark und die Demokratie so schwach geworden?“, fragt Exarbeitsminister Robert B. Reich in seinem aktuellen Buch „Superkapitalismus“. David C. Korten („When Corporations Rule the World“) und Joel Bakan („The Corporation“) lieferten schon zuvor Teilantworten. Auch Naomi Klein sieht in Neoliberalismus und Demokratie mehr Kontrahenten als Symbionten.

Barber, der sich mit „Jihad vs. McWorld“ einen Namen machte, bleibt moderat. Die Demokratie sei nicht durch den Kapitalismus an sich in Gefahr, sondern lediglich durch den „Konsumkapitalismus“. Dessen „vorrangige Aufgabe ist nicht die Herstellung von Gütern, sondern von Bedürfnissen“; so zeichnet er die Trennlinie zwischen dem alten protestantischen und dem neuen infantilistischen Ethos. War die entscheidende Triebfeder des Frühkapitalismus der Warenmangel, so sei es nun der Absatzmangel. Die Folge: „In einer Welt, in der es zu viele Waren und zu wenige Käufer gibt, werden Kinder zu Konsumenten erzogen und Erwachsene infantilisiert.“ Wichtigste Mittel dieser Pädagogik: Markenbildung und Werbung. Die USA geben jährlich 16 Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe aus und 276 Milliarden für Werbung. Damit Erwachsene auch dann noch kaufen, wenn sie schon alles haben, muss die Entwicklung ihrer kritischen Vernunft gebremst werden.

Barber definiert „Infantilismus“ als „pathologisch zum Stillstand gekommenes Stadium der emotionalen Entwicklung“ und als „pathologisch regressives Stadium der Verbrauchermarkt-Entwicklung“. Folge dieser Reifehemmung seien der Vorzug des Leichten vor dem Schweren, des Einfachen vor dem Schwierigen; und des Schnellen vor dem Langsamen. „Die sofortige Wunscherfüllung ist die größte Abweichung der Infantilisierung von der protestantischen Ethik.“s Das neue Ethos ist jedoch genauso wenig freiwillig wie das alte: „Der moderne Käufer ist kein Genussmensch, der seinem freien Willen folgt, sondern ein zwanghafter Käufer, zum Konsum getrieben, weil die Zukunft des Kapitalismus davon abhängt“. „Kauft bis zum Umfallen. Es ist eine moralische Pflicht“, appelliert die „Vancouver Sun“.
Auch Präsident Bush beruhigte zu 9/11 die Öffentlichkeit mit der Aufforderung, sie sollten „zurück in die Einkaufszentren gehen“ und mit dem Konsumieren weitermachen. Das Pflichtbewusstsein fordert seine Opfer: Die Kreditkartenverschuldung der 18- bis 24-Jährigen nahm zwischen 1992 und 2001 um 104 Prozent zu, verschuldete Haushalte gaben 2001 fast 30 Prozent ihres Einkommens für die Schuldentilgung aus. 24 Millionen US-Amerikaner sind kaufsüchtig. Das Ziel der Bedürfnisbefriedigung scheint aus den Augen verloren gegangen zu sein.

Prominentestes Opfer des Konsumethos ist jedoch nicht die rationale Kaufentscheidung, sondern die Demokratie: „Das, was wir als einzelne im Einkaufszentrum tun, prägt unser Schicksal stärker als das, was wir gemeinsam auf dem öffentlichen Versammlungsplatz tun. Aus der autonomen öffentlichen Bürgerin wird eine heteronome private Konsumentin.“ Diese verfügt – im Unterschied zu Staatsbürgern – jedoch über keine Souveränität. Privatisierung beschleunige die Entdemokratisierung: Wenn „Allmenden“ wie die Müllabfuhr, Gesundheitsfürsorge, Bildung, Katastrophenhilfe oder Dorfplätze und öffentliche Räume „privatisiert werden, werden sie de facto zerstört“. Vorreiter der Privatisierung sei das Branding. In den USA werden nicht nur öffentliche Schulen nach Privatunternehmen benannt („ShopRite of Brooklawn Center“, „Eastern Financial Florida Credit Union Center“), Finanznot leidende Städte ziehen auch Parkuhren, Polizeiwagen und den eigenen Namen als Werbefläche in Betracht: Boston könnte „Fleet Bank Burg“ werden und Bagdad „Halliburton Hamlet“.

Lösungen? Konsumenten müssen wieder zu Bürgern werden. Schon, bloß wie? Der „Kauf-nix-Tag“ wird den Konsumkapitalismus genauso wenig bändigen wie Klein-kredite oder Gütesiegel für Thunfische, de- ren Fang Delfine verschont. Pauschalsätze wie „Entweder muss die Demokratie globalisiert werden oder die Globalisierung muss demokratisiert werden“, verbreiten nicht Handlungsoptimismus, sondern Ratlosigkeit. Barber punktet im ausdauernden Konsum-Pop-Narrativ, doch die sich aus seiner Analyse ergebende Schlüsselfrage stellt er nicht: Warum ist nur der „Konsumkapitalismus“ schlecht, der Kapitalismus an sich hingegen gut? Barber ist ein Fan der „großartigen Maschine“. Er sehnt den Kapitalismus zurück „in seine ursprüngliche Rolle als effizientes und produktives Verfahren zur Befriedigung realer wirtschaftlicher Bedürfnisse“. Doch war das jemals sein Ziel? Und warum entwickelte sich der „ursprüngliche“ und „großartige“ zum Konsumkapitalismus?
Hätte sich Barber ein wenig in der Kapitalismusanalyse vertieft, wäre der zweite Schnitzer des Buches nicht passiert, nämlich dass die – trefflich beschriebene – Privatisierung als Folge der Infantilisierung erscheint, obwohl sie Ausdruck derselben Ursache ist, die Barber zu benennen scheut: des Anspruchs (und der systemischen Not) des Kapitals nach Vermehrung. Kinder werden zu markentreuen Konsumenten erzogen, weil Kapital nach Vermehrung sucht. Erwachsene werden zu infantilen Konsumenten regrediert, weil sich Kapital in einer Suchtgesellschaft schneller vermehren kann als in einer Gesellschaft Zufriedener. Und öffentliche Güter werden eben privatisiert, weil das immer größere und mächtigere Kapital es schafft, bisher unzugängliche Veranlagungsmöglichkeiten auch gegen demokratische Mehrheiten zu erschließen.
Barber muss unterstellt werden, dass er die Kerndynamik des Kapitalismus nicht verstehen will und sein kulturkritisches Talent darin erschöpft, Symptome zu beschreiben. Deshalb führen seine Lösungsvorschläge zum Problem zurück. 


Benjamin Barber spricht am 22. April um
19 Uhr im Bruno-Kreisky-Forum, Wien XIX, Armbrustergasse 15, über sein Buch.

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