Die Logik des Traums

Ein Einzeller in der Ursuppe macht eine vielfältige Karriere in „Physik der Schwermut“, dem äußerst listenreichen Roman des Bulgaren Georgi Gospodinov. Altgriechische Mythen glänzen dabei auch in der Gegenwart.

Der Ich-Erzähler, denkt man nach dem ersten Satz des Prologs, ist zwei Generationen älter als sein Autor. Er wurde 1913, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, geboren, sein bulgarischer Erfinder, Georgi Gospodinov, kam 1968 zur Welt.

Der Erzähler wurde 1913 geboren, aber er wurde auch 1968 geboren und 1944 und immer schon und noch nicht, zwei Stunden vor Sonnenaufgang als Fruchtfliege. Er ist ein Empath, der sich zwanghaft in andere einfühlt, allen voran in seinen Großvater und seinen Vater. Ergänzt wird diese Eigenart durch „die Obsession, ständig Listen anzulegen, in Listen zu denken, in Listen zu erzählen“.

Der Roman „Physik der Schwermut“ verweigert die schnelle Orientierung. Er schickt den Leser in ein Labyrinth, in dem sich dieser erst zurechtfinden muss. Das Wort Labyrinth taucht dann im Text auch wiederholt auf: Es beschreibt die Struktur des Romans und ist zugleich eines seiner Motive. Sogar in ganz trivialem Kontext wird das Vokabel bemüht. Über seine Mutter sagt der Erzähler: „Die Labyrinthe ihrer Böreks und Blätterteig-Kürbisaufläufe waren schmackhaft und verwickelt wie die Geschichten Scheherazades.“ Da balanciert der Autor auf dem schmalen Grat zwischen Poesie und schiefem Bild.

Gospodinov erteilt dem linearen Erzählen eine deutliche Abfuhr. „Die klassische Erzählung ist ein Annullieren von Möglichkeiten, die dich von überallher anspringen.“ Mit dieser Entscheidung befindet sich der Bulgare in einer literarischen Tradition, die in verschiedenen Nationalliteraturen ihre Ausprägung erfahren hat. Unvermittelt wechselt er von der Ich-Form in die dritte Person und wieder zurück, und er thematisiert und begründet diese nicht mehr ganz unübliche Technik in einem kurzen Abschweifen. Wer spricht, von wem ist die Rede?

Der Erzähler versteht es, „gleichzeitig der zu sein, der die Schnecke schluckt, und die verschluckte Schnecke selbst“. Oder, ausführlicher: „Manchmal – zu ein und derselben Zeit – bin ich ein Dinosaurier, ein Fisch, eine Fledermaus, ein Vogel, ein Einzeller, der in der Ursuppe schwimmt, oder der Embryo eines Säugetiers, manchmal bin ich in einer Höhle, manchmal in einem Mutterleib, was im Grunde dasselbe ist – ein (gegen die Zeit) geschützter Ort.“

Das Fantastische zeigt dem Realismus eine lange Nase. Die Romantik hat nicht ausgedient. Sie treibt in der Moderne immer wieder Blüten. Die Psychoanalyse hingegen, auf die die Gleichsetzung von Höhle und Mutterleib hinzuweisen scheint, spielt bei Gospodinov kaum eine Rolle. Das Labyrinth ist bekanntlich der Ort, an dem der Stiermensch Minotauros gefangen gehalten wurde, und die griechische Mythologie ist einer der vielen Bezugspunkte für Gospodinovs Roman. Er erzählt die Sagen neu und liefert somit zugleich eine gegenwärtige Interpretation. Er verleiht in einem Zwischenstück, einer gewagten Mischung aus Essay und Dichtung, dem Minotauros die Stimme, die ihm die Überlieferung vorenthalten hat. Vom alten Griechenland entwirft Gospodinov überraschende Brücken zur jüngsten Vergangenheit. „Genauso wie in der Antike waren die Kinder auch im Sozialismus unsichtbar.“

An einer Stelle bringt er den Minotauros mit Computerspielen in Zusammenhang. Man darf vermuten, dass der vorliegende Roman am Computer entstanden ist, und zwar nicht in seiner endgültigen Reihenfolge. Er erweckt den Eindruck, als seien seine Teile unabhängig voneinander geschrieben und dann im Nachhinein montiert worden, wie die Sequenzen eines Films am Schneidetisch oder eben am Computer. Ganze Geschichten sind eingebaut, die mit dem Gesamtroman nichts zu tun zu haben scheinen, aber gut aus der Schublade (von der Festplatte) Gospodinovs stammen könnten. Der sechste der neun Teile des Buchs heißt „Der Geschichtenkäufer“. Immer wieder tauchen Versatzstücke aus der bulgarischen Wirklichkeit auf. Sie ist da, etabliert sich aber ebenso wenig als Fixpunkt wie die Zeit der Handlung. Wenn man meint, die historische Wahrheit erkannt zu haben, wird man wieder in eine dichterische Umgebung katapultiert. Die Logik dieses Romans ist die Logik des Traums, in dem heterogene Teile, Wirklichkeitspartikel, „Tagesreste“ aufeinanderstoßen, sich aneinander reiben, neue Zusammenhänge eröffnen. Und sie liefert, auch darin in Übereinstimmung mit einer allgemeinen Tendenz der Moderne, ihre Poetik gleich mit.

Wo der Roman geschichtlich konkret wird, wartet er dem deutschsprachigen Leser mit ungewohnten Perspektiven auf. Die osteuropäische Sicht weicht erheblich von der in unseren Breiten kodifizierten ab. So spielt das unvermeidliche Kapitel über den Zweiten Weltkrieg in Ungarn, wo eine Einheimische einen Bulgaren, den Großvater des eigentlichen Erzählers, im Keller versteckt. Als der Krieg zu Ende ist, hält sie das vor ihm geheim, um den Geliebten für sich zu behalten. Ein Motiv, das, so abgelegen es erscheint, auch in Uwe Timms „Erfindung der Currywurst“ vorkommt, aber eben in ganz anderer Umgebung.

„Physik der Schwermut“ ist unter anderem ein enzyklopädischer Roman, ein Ausweis für die universale Bildung des Autors. Adorno wird darin ebenso genannt wie Otto Dix, der bulgarische Verpackungskünstler Christo ebenso wie Gaustín, den Gospodinov schon vor seinem jüngsten, von Alexander Sitzmann in ein flüssig lesbares Deutsch übertragenen Roman in die Literatur eingeführt hat, aber ihre Namen sind nicht viel mehr als Bausteine, die einen Assoziationsraum abrufen.

Die Grundstimmung des Romans ließe sich tatsächlich mit „schwermütig“ beschreiben, aber vielleicht sitzt man da auch nur der Suggestion des Titels auf. Der Autor hat durchaus Humor, aber dieser ist eher von derleisen, verhaltenen Sorte, schelmisch eher als schenkelklopfend. Ein Beispiel: „Mein Vater ist Vegetarier. Und Tierarzt. Er isst seine Patienten eben nicht.“

Der Erzähler starb 1995, aber er starb auch 2058 und 2026, er war immer schon tot und ist noch immer nicht gestorben (eine Vorwegnahme künftiger Tode in der Vergangenheitsform wie im Epilog der Fernsehserie „Six Feet Under“). „Ich erinnere mich, dass ich als Nachtschnecke starb, als Hagebuttenstrauch, Rebhuhn, Ginkgo biloba, als Wolke im Juni (die Erinnerung ist kurz), als lila Herbstkrokus am Halensee, als zu früh knospender Kirschbaum, erstarrt unter spätem Aprilschnee, als Schnee, der einen verführten Kirschbaum hat erstarren lassen...“ Und dann folgt, als vorletzter Satz des Romans oder vielmehr als Satzfragment: „Ich waren.“ Die letzten Worte des Prologs lauten: „Ich sind.“ Nicht Rimbauds „Ich ist ein anderer“, sondern „Ich ist viele“: Das ist mehr als ein poetologisches Bekenntnis. Es passt in unsere Zeit. ■

Georgi Gospodinov

Physik der Schwermut

Roman. Aus dem Bulgarischen von
Alexander Sitzmann. 336 S., geb., € 23 (Droschl Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2014)

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