Wer bin ich – nach dem Tod?

Das Ende eines Stierkampfs als Parallelerzählung zum Tod der Mutter: António Lobo Antunes erzählt die Geschichte einer Familie – in einer polyphonen Prosa, melodisch und geheimnisvoll wie ein Gedicht. Fast eine Art poetisches Vermächtnis.

Schon die Titel seiner Romane sind poetisch: „Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht“, „Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen“ – und nun also: „Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?“. Welche Pferde das sind, und was es mit ihrem Schatten auf sich hat, soll in dieser Rezension nicht entschlüsselt werden. Wie überhaupt Entschlüsselung nicht im Sinn des Erfinders António Lobo Antunes sein kann, denn, wie der Autor selbst einmal geschrieben hat, „die Worte sind nur Zeichen innerster Gefühle und die Figuren, Situationen und die Handlung oberflächliche Vorwände, die ich benutze, um zur Kehrseite des Seelengrundes zu führen“. Nicht nur als Schriftsteller ist António Lobo Antunes der Umgang mit dem geheimnisvollen Innersten vertraut – der Mediziner arbeitete lange auch als Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik in Lissabon. „Das wahre Abenteuer, das ich anbiete, ist eine Reise, die der Erzähler und der Leser gemeinsam in die Finsternis des Unbewussten, zur Wurzel der menschlichen Natur machen.“

Und diese Reise tritt der portugiesische Autor, seit Jahren zu Recht als Anwärter für den Nobelpreis für Literatur gehandelt, mit einer unverwechselbaren poetischen Sprache an, einer Prosa, melodisch und geheimnisvoll wie ein Gedicht, mit Wiederholungen und Refrains, eine Atmosphäre schaffend, die ihresgleichen sucht. Sein Stil ist auch im Schriftbild erkennbar: punktlose Sätze, durch Kommata aneinandergereiht, durch Absätze und Einschübe unterbrochen. Denn seine Texte sind polyphon, auch und vor allem der Roman „Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?“, der 2009 in Lissabon erschienen und nun auf Deutsch erhältlich ist, gewohnt poetisch übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann.

Sind es Gedanken, ist es ein Bewusstseinsstrom, oder sind es mehrere, von einem oder mehreren, sind es Gespenster, die hier auftreten und reden, sind es „Stimmen der Angst“, die in der Nacht zu uns sprechen, sind es Figuren aus einem Buch, sind es einfach nur Sätze eines Autors – und wie weit ist man als Leser bald selbst mittendrin in dieser Familiengeschichte mit vielen Stimmen?

Wenn es wahr ist, liegt an einem Sonntag eine Mutter im Sterben. Es sind ihre Gedanken, die sie nicht mehr aussprechen kann, die einem hier aber bald um die Ohren fliegen werden, ihre Klagen über ihr Leben mit dem Ehemann, der das Geld im Casino verspielt hat, über die Kinder, die die Schönheit und Jugend der Mutter ruiniert haben, aus denen aber nicht das geworden ist, was sie sich gewünscht hat. Es sind die Gedanken ihrer Kinder: Tochter Beatriz etwa, mit der der Roman beginnt, Sohn Francisco, mit dem er im nächsten Kapitel fortsetzt; doch bald schon schieben sich die Stimmen ineinander.

Die Stimmen derer, die im Leben offenbar nicht miteinander reden konnten, treffen sich in diesem Raum der Fiktion, und immer deutlicher wird die Einsamkeit aller Familienangehöriger. Ein Bruder wurde gar nicht erst gezeigt, sein Name nicht ausgesprochen, er lebte mit den Angestellten auf dem Landgut. Tochter Beatriz hatte kein Glück mit ihren Männern, ihr Bruder João sucht Knaben im Park auf, Schwester Ana nimmt Drogen, Rita ist viel zu jung an Krebs gestorben. Francisco wartet auf den Tod der Mutter, um die Geschwister endlich vom Hof zu jagen – und mit ihnen Mercília, die sie alle, die einst gut situierten Kinder eines Gutshofsbesitzers und Stierzüchters, wie eine Mutter großgezogen hat.

Ein Tag, der vergeht, in Richtung 18 Uhr. Das Warten auf den Tod einer Mutter wird parallelisiert mit einem Stierkampf und dem unausweichlich folgenden Todesstoß, dem die Kapitel ihre Titel verdanken. Im ersten Kapitel „Vor dem Stierkampf“ heißt es vorausblickend: „Um sechs werden sie einen Stoßdegen in ihn hineinrammen.“ Der Tod des Menschen als Tod einer Kreatur: „In 30 oder 40 Minuten knicken die Knie ein, der Körper knickt über den Knien ein, der Kopf knickt über dem Körper ein, da haben wir den Refrain oder, besser gesagt, einen der Refrains wie der mit dem Schatten der Pferde auf dem Meer.“

Während auf das Ende der Mutter gewartet wird, wird die Kindheit in Erinnerung gerufen, der bereits verstorbene Vater, das, was vielleicht einmal Zuhause war, v.a. aber kein Miteinander und viel Einsamkeit. Im Besonderen aber kreisen die Stimmen um den Tod und die Frage: Was wird aus dem Menschen, wenn er nicht mehr ist? Diese Frage nehmen auch die metafiktionalen Einschübe auf, die die Arbeit des Erzählers (des Autors?) António Lobo Antunes kommentieren, „der Sätze überspringt, außerstande, mich zu begleiten, und der, um mich loszuwerden, in einem Waschtrog die Kätzchen dessen ersäuft, was ich fühle“. Nicht, um ein poetisches Spiel zu spielen, sondern, weil sich in der Frage nach dem Schöpfer der Figuren auch die Frage der Fragen bündeln lässt: Wer bin ich? „Ich bin nicht einmal eine Stimme, geschweige denn die Figur eines Buches oder ein Mensch... und was ist das, was ich sage, schon wert, wir sind fast am Ende angelangt.“ Wer bin ich – nach dem Tod?

„Was bleibt übrig, wenn wir nicht mehr existieren, woran werde ich denken, dieses Buch ist dein Testament, António Lobo Antunes, beschönige nichts, erfinde nichts, dein letztes Buch, das irgendwo vergilbt, wenn du nicht mehr existierst.“ „Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?“ ist nicht António Lobo Antunes letztes Buch und liest sich doch wie ein poetisches Vermächtnis. „Ich glaube, dass die Nacht eine einzige Welle ist, die zu Stille wird, und in der Stille in uns verschwinden Fotos aus den Alben, zersplittern Hab und Gut der Verstorbenen.“ ■

António Lobo Antunes

Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?

Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. 448S., geb., €23,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2014)

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