Olympia, Iphigenie, Electra & Co

US-Autorin Katherine Dunn hat vor 25 Jahren einen erstaunlichen Roman über eine deformierte Familie veröffentlicht. Die antiken Vornamen der Kinder sind nicht die einzigen Seltsamkeiten. Nun liegt das Buch auf Deutsch vor.

Der Zirkus kommt in die Stadt. Es ist aber beileibe kein Rummelplatz im traditionellen Sinn, den Aloysius „Al“ Binewski durch die USA steuert. Vielmehr handelt es sich um eine bizarre Freakshow mit Attraktionen wie Geeks – blutrünstigen jungen Männern oder Frauen, die Hühnern den Kopf abbeißen. Den Betrieb hat er von seinem Vater übernommen. Obwohl längst verstorben, ist dieser immer noch mit dabei: Al hat seine Urne kurzerhand auf die Motorhaube des Generatorwagens genietet.

Mister Binewski ist das Oberhaupt einer Familie, die den Kern von Katherine Dunns superbem Roman bildet. Seine Frau Lilian, meist Crystal Lil genannt, entstammt einer Bostoner Aristokratenfamilie, hatte es aber eilig, ihre behütete Jugend zurückzulassen, sie schloss sich der Truppe an, deren Chef schnell für sie entflammte. Al betreibt mit ihr ein unglaubliches Projekt: Sie züchten sich Kinder mit Missbildungen heran, um diese als große Nummern auftreten zu lassen. Die Idee kam Al bei einem Spaziergang, als er in einem Rosengarten die zahlreichen Arten der Blume betrachtete und „erkannte, dass man auch Kinder entwerfen konnte“.

Der Mann, der in seiner Freizeit gern medizinische Fachliteratur wälzt, verabreichtseiner Lil während ihrer Schwangerschaften gezielt Drogen, Medikamente sowie Insektizide und sogar Radionuklide. Mit Erfolg, wenn man so will: Arturo oder Arty, der Erstgeborene, kommt ohne Arme und Beine zur Welt („Seine Hände und Füße hatten die Form von Schwimmflossen, die ihm ohne intervenierende Arme und Beine direkt aus dem Oberkörper sprossen“) und wird schnellmit einer Wassernummer als Aquaboy zu einem Aushängeschild des Zirkus.

Es folgen die Schwestern Electra und Iphigenie, die als siamesische Zwillinge mit gemeinsamen Hüften und Beinen geboren werden und als Kinder mit ihrem vierhändigen Klavierspiel für Furore sorgen. Komplettiert werden die Binewskis durch Olympia, einen zwergenhaften weiblichen Albino mit Glatze und Buckel, und Fortunato alias Chick, bei dem allerdings etwas schiefging.

Bei seiner Geburt lauteten die ersten Worte seiner Mutter: „Er ist nur ein ganz gewöhnliches Baby. Wie konnte das passieren?“ Chick bleibt folglich stets ein Außenseiter in der Familie. Seine Eltern und Geschwister geben ihm, wie ein Reporter in der erfolgreichsten Zeit der Binewskis schreibt, „das Gefühl, im Vergleich zu seinen ,begabteren‘ Geschwistern eklatant minderwertig zu sein“.

Die Binewskis sind eine extrem dysfunktionale, deformierte Familie. Es ist eine verkehrte Welt, die Dunn in ihrem Roman präsentiert. Für die Binewskis ist das, was sonst als normal gilt, außergewöhnlich – und umgekehrt. So liebt es Vater Al, vor dem Einschlafen Gruselgeschichten zu lesen – um sich weiterzubilden. „Die werden von Normalen geschrieben, um anderen Normalen Angst zu machen“, erklärt er der kleinen Olympia. „Und weißt du, wer diese ganzen Monster, Dämonen und verranzten Geister sind? Das sind wir. Ich lerne sehr viel aus diesen Büchern. Ich kriege davon keine Angst, weil sie von mir handeln.“

Vielleicht sollte er sich aber vor sich selbst fürchten. Seine Frau wird wegen der Medikamente bald verrückt, und seine Kinder zerkriegen sich nach und nach. Die Rede ist von den noch lebenden. Auch die Totgeburten der Binewskis sind mit von der Partie. Sie werden in einem Wagen gemeinsam mit präparierten Tieren ausgestellt. Neben den Exponaten steht: „Menschliche Wesen. Beide Elternteile normal.“

Die Erzählstimme des Romans gehört Binewskis Tochter Olympia, die als Mädchen für alles dient und daher einen guten Blick auf alle Figuren hat. Sie rollt zum einen die Familiengeschichte samt unweigerlichem Verfall auf, während sie in einem zweiten Strang zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zirkus um das Wohlergehen ihrer gerade erwachsen gewordenen Tochter Miranda kämpft. Die weiß aber nichts von ihrer Mutter. Wie früher in der Familie nimmt Olympia auch später noch die Rolle der Beobachterin ein, die kaum direkt ins Geschehen eingreift. Einer Ausnahme ist es zu verdanken, dass es die wunderschöne, körperlich fast ganz normale Miranda gibt: Olympia hat sich das Sperma ihres Bruders Arty erschlichen, um schwanger zu werden.

Bizarr? Ja, das ist wohl der richtige Begriff, um „Binewskis“ zu charakterisieren. Katherine Dunn (Jahrgang 1945) hat in den frühen 1970ern zwei Romane veröffentlicht, die beide floppten. Dann zog sie ein Kind auf, arbeitete als Kellnerin und schrieb fast 20 Jahre an diesem Buch, das in den USA 1989 unter dem Titel „Geek Love“ erschienen ist. Es entwickelte sich zum Kultbuch. Nirvana-Frontman Kurt Cobain liebte es ebenso wie Regisseur Terry Gilliam oder „Fight Club“-Autor Chuck Palahniuk.

Dass dieser fesselnde Roman auch auf Deutsch erscheint, war hoch an der Zeit. Die Übersetzung ist allerdings nur leidlich gelungen, wie schon der Titel zeigt. Die quasi-wörtliche Übersetzung „Liebe unter Hühnerkopf-Abbeißern“ wäre zwar keine gute Wahl gewesen. Das umständliche „Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie“ ist es freilich auch nicht. Vor allem, weil die „Liebe“ aus dem Originaltitel fehlt. Obwohl dieses Buch streckenweise hart und verstörend zu lesen ist, schreibt Dunn im Grunde sehr liebevoll und fast zärtlich über diese außergewöhnliche Familie.

Besonders spannend ist es, bei der Lektüre die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Geschwistern und die langsamen Veränderungen in der Hackordnung zu verfolgen. So kommandiert etwa Arty seine Schwester Olympia meist brutal herum. Sie lässt sich alles gefallen, weil sie ihn liebt und sich für ihn aufopfern will. Sie weiß: Auch Arty könnte nicht ohne sie, mag er sich bald auch noch so sehr als charismatischer Anführer des Zirkus aufspielen.

Was heißt Zirkus? Unter Artys Führung wird dieser zu einer Art Sekte umgemodelt. Bald reisen den Binewskis nämlich Menschen hinterher, die – um von ihren seelischen Problemen geheilt zu werden? – ihre Gliedmaßen opfern und wie Arty werden wollen. Eine eigene Chirurgin wird angestellt, um die Amputationen vorzunehmen, der kleine Chick assistiert ihr als Anästhesist. Er hat ja doch eine außergewöhnliche Begabung: ein Talent für Telekinese.

Dunns Roman stellt die Frage, was normal ist und was absonderlich. Die Autorin war so klug, sich nicht an Erklärungen zu versuchen, sondern den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Am besten ist ohnehin, man lässt dieses Buch einfach auf sich wirken. Und „Binewskis“ ist der schönste, schmerzvollste, fantasievollste, traurigste, verstörendste und berührendste Familienroman seit Langem. Man erahnt bei der Lektüre: Diese verrückten Binewskis, im Grund sind sie uns doch recht ähnlich. ■

Katherine Dunn

Binewskis

Verfall einer radioaktiven Familie. Roman. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. 512 S., geb., € 23,70 (Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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