Zu jung für eine Feministin

Der erzählerische Twist in „Nachkommen.“ besteht darin, dass Marlene Streeruwitz sich die Stimme einer 40 Jahre jüngeren Frau angeeignet hat: Nelia Fehn. Die ist Debütantin auf der Buchmesse in Frankfurt. Dort wird sie als hübscher Aufputz des Betriebs wahrgenommen. Böse und witzig.

Am Vormittag eine Totenvisite und am Abend eine Preisverleihung. So war das Leben.“ Und so beginnt ein guter Roman. „Nachkommen.“, der neue Roman von Marlene Streeruwitz, fängt zwar nicht direkt mit diesen beiden Sätzen an. Sie markieren jedoch den Übertritt der Hauptfigur Nelia Fehn vom Leben mit ihrer österreichischen Restfamilie, von der sie sich gründlich entfremdet hat, in die Literaturwelt, die sie bei ihrem ersten Besuch auf der Frankfurter Buchmesse auf den nächsten 400 Seiten auch noch sehr gut kennenlernen wird.

Das Vorspiel des Romans findet in einem Leichenschauhaus statt. Der Großvater hat das Zeitliche gesegnet, er war Nelias letzte Bezugsperson in der Familie. Ihre Mutter, die sich als Autorin einen Namen gemacht hatte, war schon Jahre zuvor jung gestorben. Wie diese blieb Nelia bei den Holzingers eine Außenseiterin. Und wie die Mutter verwendet sie für ihren ersten eigenen Roman den Künstlernamen Fehn.

Der Opa hat sich für das Schreiben seiner Tochter wie seiner Enkelin zwar nie interessiert. Er nahm sie aber vor der Geistesfeindlichkeit der Oma und der anderen Familienmitglieder in Schutz. Und er hat Nelia bis zuletzt immer wieder Geld zugesteckt. Damit ist nun Schluss. Stattdessen lässt man Nelia spüren, dass man sie für keine echte Holzinger hält. Fratzen, Wut, Bösterreich – das volle Programm, dankenswerterweise auf ein paar Seiten verdichtet.

Die junge Frau schafft es noch rechtzeitig nach Schwechat, um dem zu entkommen und die Mittagsmaschine nach Frankfurt zu erwischen. Am Abend wird als Auftakt zur Buchmesse der Deutsche Buchpreis verliehen. Nelia Fehn steht mit ihrem Debütroman „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ auf der Shortlist. Eine kleine Sensation, ist sie mit ihren 21 Jahren doch die mit Abstand jüngste Nominierte in der Geschichte des Preises. Ein Fräuleinwunder? So hätte man sie im Literaturbetrieb gern, aber Nelia entspricht diesem Bild nicht.

Gegen Ende des Romans, nach einigen katastrophalen Begegnungen mit Literaturmenschen („Es war alles wie beim Schulball. Alle hatten Absichten, und alle gehörten irgendeiner Gruppe an“) und kurz bevor Nelia Fehn die Buchmesse vorzeitig verlassen wird, gibt sie am 3sat-Stand ein Interview. Ihr erstes Fernsehgespräch, eine echte Feuertaufe. Sie kann und will aber nicht in Phrasen sprechen, ein paar höfliche Gemeinplätze von sich geben, wie es von ihr erwartet wird. Nelia muss Klartext reden. Mit ihrem Roman kritisiere sie den Kapitalismus, wirft ihr die Interviewerin während des Gesprächs als Stichwort-Happen zu. „Ich kritisiere nicht“, gibt Nelia zurück. „Ich lehne ab.“ Später versucht es die Journalistin noch mit einem anderen Reizwort: „Frau Fehn. Sind Sie eine Feministin.“ „Nein“, antwortet sie. „Ich bin keine Feministin. Dafür müsste ich heute sechzig Jahre alt sein.“

Marlene Streeruwitz ist Jahrgang 1951 und gehört damit jener Generation an, die Nelia Fehn damit meint. Der erzählerische Twist in „Nachkommen.“ besteht darin, dass Streeruwitz sich auf virtuose Art die Stimme einer 40 Jahre jüngeren Frau angeeignet hat. Sie weiß um die Probleme der Jungen heute – um das Gefühl, für vieles zu spät gekommen zu sein, keine echten Chancen mehr zu bekommen und stattdessen mit den Buffetresten abgespeist zu werden. Apropos: Als sie einmal der Hunger zu überwältigen droht, versorgt Nelia sich kurzerhand mit Obst aus dem Biomüllcontainer vor einem Supermarkt.

Buffetreste für das Junggemüse

Dieser jungen Frau geht es um Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Sie will „Romane und nicht Gschichterln“ schreiben. Ihr Verleger seufzt da nur: „Literatur wird nicht gelesen. Literatur. Das gab es. Aber nur in Personenform und nicht als Texte.“ Und so wird Nelia nicht als Autorin, nur als Tochter ihrer Mutter und als hübscher Aufputz des Betriebs wahrgenommen. „Junggemüse“, nennt sie ein Freund des Verlegers ungeniert. Die könnte glatt ein Model sein, meint ein anderer.

Ihr Verleger hat sie in Frankfurt in einer schäbigen Pension untergebracht, um Geld zu sparen. Beim Betreten des Zimmers verfällt sie – eine Schlüsselszene: „Das war ein Durchfallgelb, mit dem dieser Kasten gestrichen war, und sie war da gelandet. Sie war wütend darüber, dass es so eine Farbe überhaupt gab. Dass man einen Kasten überhaupt so streichen konnte und dass man das dann ansehen musste. Weil man kein Geld hatte. Sie saß in diesem Zimmer, weil sie kein Geld hatte und weil der Gruhns sich von ihr holen wollte, was ging. Das war Armut.“

Kleine Verlage können in der Regel keine Vorschüsse bezahlen. Nelia hat von Gruhns trotz ein paar tausend verkaufter Bücher noch überhaupt keinen Cent bekommen. Die 2500 Euro, die man als Shortlist-Kandidatin für den Buchpreis erhält, würde sie deshalb umso dringender brauchen. Ein paarmal ermahnt sie sich selbst, dem Verleger „die Frage wegen des Geldes“ zu stellen. Sie tut es allerdings bis zuletzt nicht.

Überhaupt ist sie nicht ganz so selbstbewusst, wie es zunächst erscheint. Irgendwie würde sie doch gern manchen Erwartungen entsprechen, die an sie gestellt werden. Und dass sie den Buchpreis nicht gewinnt, gibt ihr einen ziemlichen Dämpfer: „War sie jetzt gerade so eine Kandidatin. Eine aus ,Bauer sucht Frau‘. Eine, die nicht ausgesucht worden war. Eine, die nun ohne den Bauern fürs Leben nach Hause gehen musste. Ohne den Millionär, der dann ohnehin keiner gewesen war. Eine, die nun kein Model werden durfte. Jedenfalls nicht nach dem Urteil von Heidi. Nicht auserwählt. Sie war nicht auserwählt.“

Außerdem leidet Nelia immer noch unter dem frühen Verlust ihrer Mutter. Da hilft es wenig, dass ihr Vater, ein Frankfurter Literaturprofessor, sie auf der Buchmesse kennenlernen möchte. Wahrscheinlich will er sich nur mit ihrem Erfolg schmücken, bisher hat er auch nie von sich hören lassen: „Der hatte die ganze Zeit gelebt, seit es sie gab. Aber nicht für sie.“ So endet das Zusammentreffen von Vater und Tochter selbstredend mit einem Fiasko.

Und zuletzt sind da noch die Selbstzweifel, die an Nelia nagen: „Was war sie denn schon. Sie hatte ihr Tagebuch ein bisschen ausgebessert, und der Zufall hatte ihr geholfen, und das war ein Buch geworden.“ Wie gut dieses Buch der 21-jährige Nelia Fehn ist, darauf darf man übrigens schon gespannt sein. Ende September erscheint bei S. Fischer „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“, laut Verlag „ein wütendes Plädoyer gegen die Diktatur des Geldes und das Bekenntnis einer mutigen Gerechtigkeitsfanatikerin“. Der Roman von Nelia, es gibt ihn tatsächlich, als Verfasserin wird „Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn“ angeführt.

Wenn dieser Roman so zwingend ist wie „Nachkommen.“, könnte es passieren, dass Marlene Streeruwitz und ihre Schöpfung noch zu Konkurrentinnen um den Deutschen Buchpreis werden. ■

Marlene Streeruwitz

Nachkommen.

Roman. 432 S., geb., €20,60 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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